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Der Armutsbericht - ein Armutszeugnis?

Ziesemann

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3. November 2005
Beiträge
929
Nach dem letzten Armutsbericht der (alten) Bundesregierung ist der Anteil der Armen in Deutschland auf 13,5% gestiegen – und das in einem Land, das immer noch zu den reichsten Staaten (etwa Rangplatz 8) der Welt gehört. Erschreckend, nicht wahr?!
Doch wir sollten den Begriff „Armut“ einmal näher untersuchen. Was ist gemeint? In der amtlichen Statistik gilt jeder als relativ arm, der weniger als 75% des Nettodurchschnittseinkommens verdient und als absolut arm, wer <50% erhält. Mit dieser famosen Definition werden wir natürlich bis in alle Ewigkeit „Arme“ haben. Man braucht sich nur vorzustellen, dass in Deutschland – gleichbleibender Geldwert im Modell unterstellt – das Jahresnettoeinkommen auf € 100.000 steigt; dann sind alle arm, die „nur“ 499.000 verdienen. Ach, die Armen!
Man sollte versuchen, von diesem (fragwürdigen) Begriff der Einkommensarmut einige andere Armutsbegriffe zu unterscheiden:
Vermögensarmut: Der flott lebende Single der sein hohes Einkommen für teure Autos, Luxusreisen, aufwendige „Klamotten“ usw. ausgibt braucht keine Vermögenswerte wie Immobilien, ein dickes Wertpapierkonto u.ä. sein eigen zu nennen. Er ist im wahren Sinne arm an Vermögen und wird konsequenter Weise, wenn es arbeitslos werden sollte, ALG II bzw. Sozialhilfe erhalten.

Intergesellschaftliche Armut: das ist die Armut von Regionen im Vergleich zu anderen. Es gibt in Asien und Afrika Gebiete, da müssen Menschen mit rd. 300 $ im Jahr auskommen, sie sind wirklich arm. – Oder in Usbekistan verdient ein Universitätsprofessor (in realer Kaufkraft gerechnet!) rd. 10% weniger als ein hiesiger Sozialhilfeempfänger. Gemessen an vielen Erwerbstätigen in der Welt sind diese als „reich“ – nach unserer Bewertung aber arm.

Intragesellschaftliche Armut: Sie beschreibt die relative Armut innerhalb einer Gesellschaft. Bedenklich ist allerdings, dass nach sieben Jahren rot-grüner Regierung der Abstand zwischen den wirklich Reichen und den definierten Armen größer geworden ist. Die Schere oder die Kluft zwischen beiden hat sich weiter geöffnet.

Intergenerative Armut: Sie bezieht sich auf die Armutsvergleiche zwischen den Generationen. In Relation zur heutigen Studentengeneration etwa waren unsere Groß- und erst recht Urgroßeltern geradezu bettelarm – wohlverstanden, gemessen am realen Strom der Güter und Dienste, der ihnen zufloss. –
Noch eine letzte, zum Nachdenken veranlassende Anmerkung: Der (reale) Lebensstandard der Deutschen lag 1950 bei knapp 30% des heutigen. Der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug damals 7%; obwohl bei Flüchtlingen, Vertriebenen, Ausgebombten zum Teil noch bittere Not herrschte. Außerdem waren rd. sieben Millionen zum großen Teil nicht mehr erwerbsfähige Kriegsversehrte zu versorgen. Aber mehr lag für die damals arme Volkswirtschaft nicht „drin“. Doch obschon der individuelle Lebensstandard sich seitdem mehr als verdreifacht hat, Kriegsfolgelasten praktisch nicht mehr existieren, beträgt der Sozialanteil am BIP heute über 30%.
Ist da nicht etwas schief gelaufen? – Doch das wäre ein neues Thema.
 
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Ziesemann schrieb:
Doch wir sollten den Begriff „Armut“ einmal näher untersuchen. Was ist gemeint? In der amtlichen Statistik gilt jeder als relativ arm, der weniger als 75% des Nettodurchschnittseinkommens verdient und als absolut arm, wer <50% erhält. Mit dieser famosen Definition werden wir natürlich bis in alle Ewigkeit „Arme“ haben.

Hallo Ziesemann,

zwar ist dieses ganze Gebiet in das uns dein Beitrag führt, besser gesagt einführt, für mich von grossen Interesse, aber auch sehr schwierig. Es wird vielleicht auch anderen so gehn, und deswegen auch meine Fragen.

Du stehst eindeutig nicht zur Definition der Armut nach obigen Kriterien. Kann ich auch gut verstehn. Aber Armut zu definieren, wird wohl eine sinnvolle Sache sein, und ich vermute, dass diese Definition auch praktische Konsequenzen in Hinblick auf eine Gegensteuerung haben soll.

Meine Frage nun: nach welchen Kriterien könnte oder sollte eine solche Definition gemacht werden?
Anders gefragt: welche Elemente müsste sie enthalten, die ihr erlauben würde Gültigkeit zu wahren, auch wenn manche Daten sich grundsätzlich ändern?

Oder aber befürwortest du, dass die Definition der Armut eigentlich nur differenziert unternommen wird, nach den Kategorien die du in der Folge auflistest (also: Vermögensarmut, Intergesellschaftliche Armut, etc...)?

Deine Frage ganz am Ende des Beitrags bezieht sich wohl auf etwas anderem, und dieses "etwas schief gelaufen" hinterfragt doch die Zustände oder die Misstände in unserer Gesellschaft.

Ich nehme an, dass meine Fragen sehr laienhaft sind - aber vielleicht helfen sie auch anderen, in diese Materie besser einzusteigen.

Gruß von Miriam
 
Hallo Ziesemann!
Eine interessante Betrachtung. Unter welchen Umständen würdest du dich als "arm" betrachten?
Armut bei uns ist sicher etwas anderes als in den ärmsten Ländern der Welt.
Wenn ich in einer Gesellschaft lebe, wo sich fast alle einen gewissen Lebensstandard leisten können, den ich mir nicht leisten kann, dann empfinde ich mich subjektiv als arm. Deswegen gab es auch in der Nachkriegszeit nicht die Empfindung, arm zu sein, jedenfalls nicht ärmer als die meisten anderen.

Eine Definition von Armut ist von der "Armutskonferenz" erstellt worden. Hier kann man auch Infos über andere Aspekte von Armut finden.

herzlich
lilith
 
Definition der Armut

Hallo Miriam,
ist dies Thema wirklich schwierig? Im Vergleich zu dem, was die Physiker und Philosophen (Dich engeschlossen) in diesem Forum schreiben, erscheint es mir fast spielerisch leicht.
Du hast mich richtig verstanden: Die für die BRD - und vermutlich auch andere Staaten wie Austria - geltende Armut ist definiert, und ich versuchte zu zeigen, dass wir mit dieser Begriffsbestimmung unabhängig davon wie der Lebensstandard steigt, immer "Arme" haben werden. Es besteht auch die Gefahr einer Begriffsmanipulation. Man braucht nur den Prozentsatz des Durchschnittseinkommens zu verändern, und schon haben wir mehr oder weniger Arme. Eine Herabsetzung beispielsweise auf 40% würde schlagartig Millionen zu "Armen" machen, obwohl sich an ihrer Lebenshaltung nicht das geringste geändert hat.
Ich sehe keine andere Möglichkeit als jeweils klar zu definieren, welches der Bezugsert ist, auf den sich der Armutsbegriff stützt.
Auf das angedeuete Thema möchte ich ein anderes Mal zurückkommen.
 
Wer ist arm?

lilith51 schrieb:
Hallo Ziesemann!
Eine interessante Betrachtung. Unter welchen Umständen würdest du dich als "arm" betrachten?
Armut bei uns ist sicher etwas anderes als in den ärmsten Ländern der Welt.
Wenn ich in einer Gesellschaft lebe, wo sich fast alle einen gewissen Lebensstandard leisten können, den ich mir nicht leisten kann, dann empfinde ich mich subjektiv als arm. Deswegen gab es auch in der Nachkriegszeit nicht die Empfindung, arm zu sein, jedenfalls nicht ärmer als die meisten anderen.

Eine Definition von Armut ist von der "Armutskonferenz" erstellt worden. Hier kann man auch Infos über andere Aspekte von Armut finden.

herzlich
lilith

Hallo Lilith,
Du hast vollkommen recht, Armut ist bei uns etwas ganz anderes als in wirklich armen Ländern der Vierten Welt. Gemessen an deren Armen sind unsere Armen schon fast reich zu nennen.
Ob man sich subjektiv als "arm" empfindet, ist eine Frage der Subjektivität, abhängig von der Wertschätzung materieller Güter. Wer wie Sokrates über den Markt von Athen wandelt und sinniert: "Wie viele Güter gibt es doch auf dieser Welt, deren ich nicht bedarf", fühlt sich nicht im geringsten arm, weil er kein Bedürfnis hat, mehr davon zu besitzen.
Ich habe den von Dir angegebenen Link "Armutskonferenz" angeklickt, aber eine Definition i.e.S. konnte ich auch da nicht finden. Hier wird wieder Armut umschrieben als ein Verhältnis der Geringvderdienern zu den "Besserverdienenden". - Übrigens zu der Absurdität dieser Messlatte noch ein Gedanke: Wenn die Zahl der Millionäre in einem Land steigt, dann steigt auch die Zahl der Armen, obwohl sich nicht ein Jota an ihrem Lebensstandard geändert hat.
Freut mich, dass Du das Thema interessant findest.
Ebenso herzlich - Ziesemann
 
Sozialquote

Von einem Leser erhielt ich im Kommentar die Anfrage, welche Gründe dazu geführt haben, dass die Sozialausgaben absolut und die Sozialquote (Anteil am BIP) relativ gestiegen ist - trotz ständig steigenden Lebensstandard.
Gern will ich in einem neuen Thread mal darauf antworten;aber warum gibt sich der Kommentator nicht namentlich zu erkennen?
Gruß
Ziesemann
 
Ziesemann schrieb:
Von einem Leser erhielt ich im Kommentar die Anfrage, welche Gründe dazu geführt haben, dass die Sozialausgaben absolut und die Sozialquote (Anteil am BIP) relativ gestiegen ist - trotz ständig steigenden Lebensstandard.
Gern will ich in einem neuen Thread mal darauf antworten;aber warum gibt sich der Kommentator nicht namentlich zu erkennen?
Gruß
Ziesemann

...ich bekenne mich schuldig im Sinne der 'Anklage ?'.
Vermutlich habe ich, wieder einmal, den falschen Knopf gedrück.
Es tut mir leid, ich gelobe Besserung.
Deine Ausführungen zu diesem Thema werden, sicher nicht nur von mir, mit Spannug erwartet.
Gruß
tanne
 
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Das Werden des totalen Versorgungsstaates

Vom Sozialstaat über den Wohlfahrtsstaat zum Versorgungsstaat

Als der Vater des Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, mit weltweit beachtetem sensationellen Erfolg 1948 die Soziale Marktwirtschaft in den drei westlichen Besatzungszonen einführte, hatte er konzeptionell folgende Vorstellung: Je mehr der individuelle Wohlstand wächst, je höher die Realeinkommen steigen, desto mehr kann sich der Staat aus der sozialen Verantwortung zurückziehen und sich auf Hilfe für die wirklich Unterstützungsbedürftigen konzentrieren, vor allem auf jene, die wegen körperlicher und geistiger Gebrechen nicht in der Lage sind, für sich selbst aufzukommen. Alle anderen sollten für voraussehbare Schicksale ihres Lebens, vor allem Alter und Krankheit, selbst sorgen, denn sie verdienten ja jährlich mehr und mehr.
Die Entwicklung ist genau entgegengesetzt verlaufen: Je höher die Individualeinkommen stiegen, desto mehr okkupierte davon der Staat und die Sozialversicherungsträger absolut und relativ. Betrug die Sozialquote (= Anteil der Sozialleistungen am BIP) 1950 noch 7% - und das bei der notwendigen Versorgung von Millionen Kriegsversehrten – so liegt diese seit rd. 20 Jahren stets über 30% und erreichte manchmal sogar mehr als ein Drittel aller volkswirtschaftlichen Leistungen. Niemand kennt genau die Anzahl (fachliche Schätzung: knapp 200) der Sozialleistungen, denn irgendwie bekommen alle irgend etwas. Der Hausbesitzer wie sein Mieter, der reiche Student wie der mittellose Arbeitslose, der gut verdienende Erwerbstätige (Entfernungspauschale) wie der „Penner“ an der Bahnhofsecke, der Millionär (via Verlustabschreibung) wie der Sozialhilfeempfänger mit Zusatzleistungen für Heizung usw.usf. Und auch der mit einer satten Pension ausgestattete Senior kann verbilligt ins Museum oder in die Sauna gehen. Bei dieser gigantischen Umverteilungsmaschine weiß keiner mehr, ob er im Ganzen davon profitiert oder drauflegt. Als ziemlich sicher gilt, dass für die oberen 10% (vielleicht) ein Minus entsteht, für die unteren 10% (vielleicht) ein Plus, aber für 80% das System ein Nullsummenspiel ist; d.h. nicht ganz, nämlich abzüglich der Milliardenkosten für eine gewaltige Bürokratie.
Wie konnte es zu diesem Aberwitz eines nun nicht mehr finanzierbaren totalen Versorgungsstaat kommen? Der Grund liegt im politischen System. Abgeordnete wollen wiedergewählt werden, eine Regierung will im Amt bleiben. Die Verteilung von tatsächlichen oder vermeintlichen Wohltaten zahlt sich in der Wahlurne besser aus als eine sparsame Haushaltsführung mit weniger Benefizen. Paul Kirchhof wollte umsteuern, wir wissen, wie er gescheitert ist.
Zu Unrecht, das muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden, beruft sich die CDU heute auf Ludwig Erhard, seine Ideen hat sie spätestens mit der sog. Dynamischen Rente von 1957 (Erhard war dagegen!), die fast einstimmig im Bundestag beschlossen wurde, verraten. Sie bescherte Adenauer den größten Wahlsieg in der Geschichte der CDU, 50,2% aller Stimmen. Und spüren in des Wortes wahrer Bedeutung, nicht zuletzt durch den demographischen Kollaps, dass dies dicht gesponnene soziale Netz – manche nennen es auch die soziale Hängematte – schlicht und einfach nicht mehr bezahlbar ist. Der Widerstand gegen unabweisbare Kürzungen ist gewaltig. Politiker, die versuchen, die Sozialquote auch nur um ein bis zwei Prozentpunkte zu drücken, werden des „sozialen Kahlschlags“ bezichtigt, der „sozialen Kälte“, was angesichts der Summe der Sozialleistungen, die ständig schneller gestiegen sind als die volkswirtschaftliche Leistung, geradezu absurd ist.
Fazit: Wir leisten uns sozial schon lange mehr, als wir uns leisten können, weil wir einfach nicht mehr leisten, was wir dafür leisten müssten.
Der totale Versorgungsstaat macht alle unfroh. Die einen jammern wegen angeblich oder tatsächlich steigender Armut, dass sie zu wenig bekommen und die anderen, dass ihnen durch Steuern und Sozialabgaben nur ein geringes Nettoeinkommen bleibt. – Armes Deutschland.
 
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