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Novembergeschichte von Ela

AW: Novembergeschichte von Ela

21. Pause​

"Dumm ist nur, dass er jetzt den Haken und ein Stück der Angelschnur im Maul hat.", gibt Flurina zu bedenken. "Das stelle ich mir nicht sehr angenehm vor."
"Ja, da könntest du Recht haben, gibt der Fischer zu. "Da müssen wir was tun, aber erst brauche ich jetzt mal eine kleine Pause. Wer hat eigentlich das Gerücht in die Welt gesetzt, Fischen sei entspannend?"
Er setzt sich hin und zündet sich eine Zigarette an.
Flurina legt den nutzlosen Kescher zu Seite und setzt sich ebenfalls wieder hin.
"Hat es eigentlich noch Kaffee?"
"Klar, soviel du möchtest. Bedien dich einfach." Er reicht ihr die Thermosflasche, die auf wundersame Weise wieder randvoll mit aromatischem, heissen Kaffee ist.
Flurina seufzt. "Diesen Trick möchte ich auch gerne können."
Während einiger Zeit sagen sie beide nichts und lauschen nur dem leisen Plätschern des Wassers, das die Ufersteine umspült.
Dann sagt Flurina: "Ich weiss jetzt, weshalb du nicht mehr Zauberer bist und weshalb du dich von der Gedankenleserei abgewandt hast. Aber eigentlich hast du mir noch immer nicht erklärt, weshalb du ausgerechnet Fischer und nicht etwa Gärtner, Maler, Dachdecker oder Dichter geworden bist. Ich meine, Fischer ist jetzt nicht unbedingt der attraktivste Beruf, wenn man in einem Land ohne Meer wohnt und nicht einmal ein See in der Nähe ist. In den mickrigen Flüsschen, die es hier hat, kannst du ja bestimmt nicht genug fangen, um damit deinen Lebensunterhalt zu bestreiten."
"Ach weisst du, ich brauch ja nicht viel zum Leben. Ausserdem beherrsche ich immer noch den Münzentrick. Ich meine jetzt nicht den Verschwindetrick, sondern den anderen."
"Aber du hast doch gesagt, den solle man nicht..."
"Psst", unterbricht sie der Fischer. "Ich werde dir jetzt im Moment keine weiteren Fragen beantworten. Wie gesagt, brauche ich eine Pause und ausserdem bist du mit der nächsten Geschichte an der Reihe."
"Ich weiss aber keine Geschichte mehr.", behauptet Flurina.
"Gut, dann machen wir eben beide Pause, bis dir eine einfällt."
 
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AW: Novembergeschichte von Ela

22. Der Wurm​

Flurina überlegt. Sie ist nicht gut darin, Geschichten zu erfinden. Sie hat keine Ahnung, was sie dem Fischer erzählen soll, ihr Kopf ist wie leergeräumt.
"Wieso fängst du nicht bei etwas ganz Naheliegendem an und machst von dort aus einfach weiter?", fragt der Fischer.
Flurina denkt: Was Naheliegendes? Was, bitteschön, liegt denn jetzt hier nahe? Der Fischer? Der Fisch? Der Wurm am Haken?
"Ja, warum nicht eine Geschichte über den Wurm am Angelhaken?", ermutigt sie der Fischer.
Und Flurina stellt sich einen Wurm vor, der in der kühlen Erde lebt. Er denkt an nichts anderes, als die Erde vor sich zu fressen und hinter sich wieder auszuscheiden. Er ist eines jener Geschöpfe, die nach Auskunft des Fischers ideale Kandidaten sind für Anfänger in der Kunst des Gedankenlesens.
Dann, eines Tages, muss der Wurm fluchtartig nach oben kriechen, weil ein heftiger Regen seine Gänge überschwemmt hat. Aber kaum streckt er seinen Kopf aus der Erde, wird er gepackt und in eine Dose geworfen, in der viele seiner Artgenossen liegen und sich winden.
Und jetzt passiert etwas ganz Eigenartiges. Aus irgendeinem Grund, vielleicht wegen der grossen Angst, einer genetischen Disposition oder schlicht aus einer Laune der Natur heraus, beginnt der Wurm plötzlich, die Welt im Allgemeinen und seine Position darin im Besonderen mit der allergrössten Klarheit wahrzunehmen, zu analysieren und im Kopf die Möglichkeiten für eine weitere Gestaltung seines Lebenslaufes durchzuspielen. Mit anderen Worten, er wird von einem Augenblick zum anderen intelligent.
Jetzt ist dies aber leider nicht wirklich ein guter Moment für einen Wurm, intelligent zu werden, wenn man mit vielen anderen zusammen in einer Dose liegt. Intelligenz nützt in diesem speziellen Fall ja weitaus weniger als zum Beispiel ein paar kräftige Beinpaare.
Die Lage verbessert sich auch nicht dadurch, dass als nächstes zwei dicke Finger nach ihm greifen, ihn an einen Haken stecken und dann ins Wasser werfen. Der Wurm hält die Luft an, denn er weiss nun leider mit neugewonnener Klarheit, was ihm blüht. Irgend ein armer, unschuldiger Fisch wird kommen und nach ihm schnappen wollen, das liegt nun mal in der Natur eines Fisches.
Und damit wird der Fisch selber in die Falle gehen, vom Fischer getötet werden und von ihm aufgefressen.
Irgendwann wird der Fischer sterben, dann vergräbt man ihn im Boden und die Würmer tun sich an ihm gütlich.
Und so geht das immer weiter, im ewigen Kreislauf von fressen und gefressen werden.
Der Wurm ist dermassen ergriffen von seinen eigenen Erkenntnissen, die ihm da aufs Wunderbarste klar geworden sind, dass er, als die Forelle kommt, ihr alles sofort erzählt und erklärt und zum Schluss vorschlägt, sie könnten es ja einfach anders machen, den Kreis durchbrechen, die Forelle könne ja darauf verzichten, ihn zu fressen und somit auch dem eigenen Tod entgehen. Eine klassische Win-Win-Situation also.
Die Forelle hört dem Wurm zu.
Dann denkt sie: "Was für ein grauenhafter Klugscheisser!" und schnappt zu.
 
AW: Novembergeschichte von Ela

23. Der Fischflüsterer​

Der Fischer grinst und meint: "Na also, geht ja! Jetzt sollten wir aber sehen, was wir für den Grossen tun können." Und mit dieser Bemerkung erhebt er sich und geht zum Uferrand, kauert sich nieder und streckt die Hand ins Wasser.
"Was hast du vor?", möchte Flurina, die ihm gefolgt ist und jetzt neben ihm hockt, wissen.
Der Fischer antwortet nicht und beginnt stattdessen leise zu summen. Es ist eine merkwürdige Melodie, irgendwie dissonant und doch auch harmonisch. Sie erinnert Flurina an etwas, aber sie weiss nicht woran. Sie hat ähnliche Klänge bestimmt schon einmal gehört. Oder besser gesagt, eine ähnliche Melodie, aber in einer anderen Klangfarbe.
Dann fällt es ihr ein: Walgesänge.
Als sie einmal vor einigen Jahren eine Freundin zu einem Meditationskurs begleitet hatte, wurden dort solche Gesänge zur Einstimmung abgespielt. Der Lehrer wollte, dass sie sich ganz auf diese Töne einliessen, alle Gedanken loslassen, davonschwimmen lassen und sich alleine von diesen Klängen davontragen lassen.
Dazu sprach er mit betont ruhiger Stimme und Flurina erinnert sich, wie störend sie sein salbaderndes Gerede empfunden hatte. Er hatte eine unangenehme Stimme, so etwas Schmeichlerisches und Schleimiges lag darin.
Flurina war nur ihrer Freundin zuliebe mitgegangen, obwohl sie wusste, dass diese Art der Versenkung ihr gar nichts brachte, ausser dem Gefühl, als einzige in der Gruppe absolut kopfgesteuert und kontrollsüchtig zu sein.
Aber daran möchte sie jetzt wirklich nicht denken.
Ha! Genau das ist es: Sie will nicht daran denken. Wenn das kein Kontrollwahn ist!, denkt sie.
Fasziniert betrachtet sie den Fischer, der jetzt zu seinem Summen mit der Hand im Wasser kleine, unglaublich elegante Muster zu zeichnen beginnt.
Und dann traut sie ihren Augen kaum, als sie plötzlich bemerkt, dass der grosse Fisch ganz nahe bei der Hand des Fischers, direkt unter der Wasseroberfläche schwebt.
Flurina hält den Atem an. Der Fischer greift ganz behutsam mit der anderen Hand nach dem grossen Tier, hält den Fisch mit sanftem Griff gleich hinter den Kiemen fest und fährt ihm mit zwei Fingern der Hand, mit der er eben noch seine eigenartigen Bewegungen im Wasser vollführt hat, fast beiläufig ins Maul und mit einer geschickten und schnellen Bewegung löst er den Angelhaken aus dem Gaumen des Fisches.
Der zuckt nicht einmal zusammen dabei, lässt alles einfach vollkommen vertrauensvoll mit sich geschehen. Dann taucht er ganz langsam unter und verschwindet.
"Boah!", kommentiert Flurina anerkennend, "Weshalb gibst du dich eigentlich überhaupt mit Angeln ab, wenn du so was drauf hast?"
 
AW: Novembergeschichte von Ela

24. Nicht fertig ausgedacht

"Fassen wir doch einmal zusammen", sagt Flurina und beginnt an den Fingern aufzuzählen. "Erstens bist du ein Fischer, zweitens ein Zauberer, drittens ein Gedankenleser, viertens ein Philosoph oder zumindest wärst du gerne einer - ich glaube, an diesem Punkt musst du noch ein wenig arbeiten, wenn du ernstgenommen werden willst - und fünftens bist du so eine Art Fischflüsterer und diese Fähigkeit lässt deine Bemühungen, Fischer sein zu wollen, vollkommen absurd erscheinen."
"Und was bist du eigentlich?", fragt der Fischer sanft.
"Ich?" Auf diese Frage ist sie nicht vorbereitet. Ja, was ist sie eigentlich? Und mit grossem Entsetzen merkt sie, dass sie keine Ahnung hat, was sie eigentlich sonst im Leben tut, wenn sie nicht gerade an einem Fluss sitzt und sich mit einem merkwürdigen Menschen unterhält, der von sich behauptet, Fischer zu sein.
"Also ich bin, ähm, ich gehe spazieren und ich hatte mal einen Grossvater und eine Grossmutter und mindestens zwei Freundinnen.", sagt sie lahm.
Der Fischer lächelt ihr aufmunternd zu. "Mach dir nichts draus, du bist einfach noch nicht ganz fertig ausgedacht. Das geht den meisten so, vor allem in einer Kurzgeschichte. Aber zumindest hast du einen Namen, was ich von mir selber leider nicht sagen kann. Ich fürchte, der Autor dieser Geschichte verfügt über eine nicht sehr grosse Phantasie."
Flurina versteht nur Bahnhof. Schon wieder sagt der Fischer so verwirrendes Zeug, mit dem sie rein gar nichts anfangen kann. "Erklärst du mir bitte, was zur Hölle du mir da gerade sagen möchtest?"
Und in diesem Augenblick springt der grosse Fisch aus dem Wasser, packt den Fischer am Umhang und reisst ihn mit sich in den Fluss.
 
AW: Novembergeschichte von Ela

25. Baden gegangen​

Der Fischer stürzt kopfüber ins Wasser und taucht sofort unter. Flurina springt entsetzt auf und hält ängstlich nach ihm Ausschau. Sie hofft inständig, dass er rasch wieder auftaucht, dass er schwimmen kann und dass ihn der grosse Fisch nicht auf den Grund des Flusses zieht. Sie ist zwar eine gute Schwimmerin und hat sogar vor Jahren einmal die Prüfung als Rettungsschwimmerin abgelegt, aber das Wasser muss um diese Jahreszeit elend kalt sein und Flurina spürt wenig Neigung, dem Fischer nachzuspringen.
Und tatsächlich taucht er auch bald prustend und platschend von selbst wieder auf und Flurina bemerkt mit grosser Erleichterung, dass er sehr gut alleine zurecht kommt. Zwar behindert ihn sein jetzt sehr schwer gewordener Umhang beträchtlich beim Schwimmen, dennoch schafft er es ans Ufer und entsteigt dem Fluss tropfnass und lauthals fluchend wie ein sehr wütender Wassermann.
"Meine Güte", ruft er aus, "das ist ja wirklich das Allerletzte! Okay, ich habs kapiert! Schon gut. Ich hab jetzt begriffen, dass du ein absoluter Kontrollfreak bist, alles klar! Und was willst du jetzt? Soll ich hier in meinen nassen Klamotten erfrieren, bevor die Geschichte zu Ende ist?"
"Aber ich hab doch gar nichts gemacht.", stammelt Flurina erschrocken.
"Ich meine ja auch nicht dich!", schimpft der Fischer in gleicher Lautstärke weiter. "Und ich sage jetzt nicht, wen ich meine, weil mir nämlich sonst wahrscheinlich als nächstes ein Baum auf den Kopf fällt, oder ein Meteorit oder sonst irgendwas vollkommen Absurdes geschieht, um mich zum Schweigen zu bringen."
Und mit diesen, für Flurina vollkommen unverständlichen Worten lässt er sich nass und erschöpft auf seinen Sitzplatz fallen und versinkt in brütendes Schweigen.
 
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26. Der Dodo​

Wenige Minuten später hören Flurina und der Fischer ein leises Brummen und schauen flussabwärts, von wo es sich nähert und an Lautstärke gewinnt bis seine Ursache sichtbar wird. Es ist das kleine Flugzeug mit dem Dodo, welches vorher schon einmal vorbeigekommen ist.
Flurina denkt, dass es gefährlich nahe an der Wasseroberfläche fliegt und macht sich Sorgen um den Dodo. Ausgestorbene Tiere sollten besonders gut auf sich achten.
Dann bemerkt sie jedoch die kleinen Schwimmer, die unter dem Doppeldecker angebracht sind. Es ist ein Wasserflugzeug und es setzt soeben zur Landung an.
Oder eben zur Wasserung.
Der Dodo ist ein guter Pilot. Elegant setzt er seine Maschine aufs Wasser, lässt sie zum Ufer schwimmen und wirft dem Fischer eine dünne Leine zu. Der fängt sie auf und zieht das Flugzeug auf eine kleine Sandbank unterhalb der Böschung.
Der Dodo springt heraus, nickt knapp in Richtung der verblüfften Flurina und watschelt auf den immer noch tropfenden Fischer zu. Unter den linken Stummelflügel hat er sich die rot-weisse Mütze des Fischers geklemmt, deren Bommel nass und traurig über den Boden schleift. Er lässt sie vor seine Füsse fallen und fragt in vorwurfsvollem Ton: "Gehört die dir?"
Der Fischer nickt.
"Ihr solltet keine Dinge in den Fluss werfen. Da weiss man nie, wer sich darin verfangen könnte. Bitte achtet in Zukunft darauf!", sagt der Dodo mit anklagender Miene. Dodos sind gut darin, anklagend zu blicken, ihre Physiognomie scheint wie geschaffen dafür.
"Entschuldige bitte", sagt der Fischer zerknirscht, "Du hast natürlich recht. Wir hatten ein kleines Problem mit der Definition von Realität. Die Mütze ist aus einem praktischen philosophischen Grund im Wasser gelandet."
"Aha! Realität? Ja, ich verstehe. Knifflig. Konnte das Problem gelöst werden?", fragt der Dodo.
"Noch nicht ganz", gibt der Fischer zu, "aber wir nähern uns der Lösung an."
"Gut. Das freut mich für euch. Werft einfach nichts mehr ins Wasser dabei, wenn das möglich ist." Der Dodo mustert den Fischer eine Weile nachdenklich und meint dann: "Im übrigen würde ich dir sehr empfehlen, um diese Jahreszeit nicht im Fluss zu baden. Oder dich zumindest danach gut abzutrocknen."
Damit dreht sich der Vogel um, besteigt sein Flugzeug und als der Fischer ihn wieder aufs Wasser zurückgeschoben hat, startet er die Maschine und hebt kurz darauf brummend ab. Flurina und der Fischer winken ihm nach, aber er schaut nicht mehr zurück und verschwindet, immer noch im Tiefflug, um die nächste Flussbiegung.
 
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27. Einfach weiterfischen​

"Wir nähern uns der Lösung an?", fragt Flurina mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Klar doch!", bestätigt der Fischer. "Noch drei Kapitel, dann ist alles vorbei."
"Und was soll nun das schon wieder heissen? Mann, red endlich mal so, dass ich dich verstehen kann."
"Lass uns lieber noch einen Fisch fangen.", meint der Fischer. "Ich merke gerade, dass sich meine Kleidung nun schon wieder viel trockener anfühlt. Wir sollten das Schicksal, oder was auch immer hier Schicksal spielt, nicht noch mehr herausfordern."
Er schweigt einen Moment, schaut sich ein wenig unsicher um und fährt dann fort: "Auf drei Fische sollten wir es bis zum Ende der Geschichte schon bringen. Du weisst doch: Es müssen immer drei sein. Und der Dritte bringt dann die Sache zum glücklichen Ende. Drei ist eine sehr beliebte Zahl in Geschichten."
Flurina lässt sich seufzend auf ihr Kissen fallen. "Ich weiss gar nichts mehr. Aber du hast recht. Lass uns einfach noch einen Fisch fangen."
 
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28. Der dritte Fisch​

Der dritte Fisch lässt tatsächlich nicht lange auf sich warten. Nachdem Flurina und der Fischer eine Weile schweigend aufs Wasser gestarrt haben, ruckt die Angel und der Fischer holt sie ohne grosse Mühe ein. Diesmal scheint der Fisch genau die richtige Grösse zu haben. Er zappelt ein wenig herum, aber nicht so sehr, dass ihn der Fischer nicht ohne Schwierigkeiten vom Haken lösen kann und schon leistet er seinem kleinen und seinem ganz kleinen Artgenossen Gesellschaft im gelben Eimer.
"Siehst du", sagt der Fischer, "der Dritte ist immer richtig."
Flurina beugt sich über den Eimer um den Fisch genauer in Augenschein zu nehmen und fragt: "Und was genau heisst das jetzt für uns?"
Sie kann nichts Besonderes an diesem Fisch erkennen. Das ist einfach ein ganz normaler, mittelgrosser, ganz und gar uninteressanter Fisch, wie es wahrscheinlich Hunderte in diesem Fluss gibt.
"Lass dich von seinem unscheinbaren Äusseren nur nicht täuschen", betont der Fischer, "wenn der sprechen könnte und dir seine Lebensgeschichte erzählen würde, wärest du erstaunt, wie aufregend so ein Flussfischleben sein kann!"
"He, ich glaube, er versucht gerade zu sprechen!", bemerkt Flurina und beugt sich noch tiefer über den Eimer. "Schau doch nur, wie er seinen Mund bewegt!"
"Ähm, Flurina? Ich möchte dich nicht enttäuschen, aber Fische können nicht sprechen. Fische bewegen den Mund auf diese Weise um zu atmen."
"Nein, nein!", widerspricht Flurina. "Ich höre etwas. Nur ganz leise und ein wenig verschwommen, aber wenn man Übung hat im Telefonieren in mobilen Netzen, kann man durchaus verstehen, was er sagt, nämlich:

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(Ch. Morgenstern - Fisches Nachtgesang)​
"Wow!", meint der Fischer verblüfft. "Ein Fisch, der Lyrik rezitiert. Das finde ich jetzt aber wirklich ganz aussergewöhnlich."
Flurina nickt. "Ja. - Nur schade, dass er einen so grässlichen Akzent hat."
 
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29. Ein sanfter Hauch von Romantik - und sein unsanftes Ende​

Der Fischer und Flurina schauen sich einen Augenblick schweigend an und plötzlich ist da etwas Neues, Seltsames zwischen ihnen. Es kommt Flurina so vor, als kenne sie diesen Mann schon sehr lange, alles Fremde und Eigenartige scheint in diesem Moment von ihm abzufallen und für eine kurze Weile kommt es ihr vor, als würde sie in einen Spiegel sehen.
Der Fischer seufzt: "O je, es scheint fast so, als wolle der Geist, der sich diese Geschichte ausdenkt nun auch noch kurz vor Schluss ein kitschiges Element einbringen."
Flurina versteht nicht, was er meint, aber das Gefühl der Verbundenheit weicht schlagartig etwas ganz anderem. Jetzt ist sie einfach nur noch wütend.
"Was wird hier eigentlich gespielt?", möchte sie nun endlich wissen. "Was ist das für eine schräge Geschichte, in die ich hier geraten bin? Was meinst du mit Geist, der sich diese Geschichte ausdenkt. Und die wichtigste Frage: Was mach ich eigentlich hier und wieso bin ich nicht schon längst nach Hause gegangen? Verdammt, das sollte nur ein kleiner Spaziergang werden und jetzt sitze ich schon eine Ewigkeit hier mit dir zusammen und ich weiss noch immer nicht, wohin das Ganze führen wird."
"Ganz einfach", lächelt der Fischer, "das Ganze führt immer zum Ende."
 
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30. Schluss​

Und für dieses Ende wird es jetzt wirklich Zeit. Leider hat die störrische und eigenwillige Haltung des Fischers verhindert, dass es ein glückliches Ende geworden ist, ich meine eines, mit einer frisch aufgeblühten Liebe und rosigen Zukunftsaussichten für die Protagonisten und so.
Aber vielleicht ist der November einfach nicht die richtige Jahreszeit für so etwas. Vielleicht treffen sich Flurina und der Fischer ja nächstes Jahr im Mai wieder und dann könnte alles ganz anders werden.
Aber das müssen wir nun hier offen lassen. Lassen wir die beiden einfach ziehen, wohin sie auch immer gehen möchten.
Das heisst stopp! Noch nicht ganz! Da steht ja immer noch der gelbe Eimer mit den drei Fischen, der mageren Ausbeute dieser Geschichte. Der Fischer hat doch versprochen, zumindest die beiden Kleinen wieder frei zu lassen.
Der Fischer nimmt den Eimer und steigt, begleitet von Flurina, zum letzten mal zum Wasser hinab. Dort kippt er ihn ohne irgendwelche feierliche Gesten in den Fluss und die drei Fische, der Kleine mit der Paillettenaugen, der ganz kleine Schuhfisch, der wie Flurinas Grossvater aussieht und der Mittelgrosse, der einfach nur ein ganz gewöhnlicher Fisch ist mit einem Hang zur Lyrik, verschwinden sofort in der Tiefe.
Vielleicht schwimmen sie von hier aus zum grossen Fluss. Vielleicht auch noch weiter, um das Meer zu sehen.
Flurina und der Fischer schütteln sich die Hand, zögern kurz, umarmen sich ein wenig unbeholfen und steif, dann geht der Fischer rechts und Flurina links aus dem Bild.
Zurück bleiben auf dem laubbedeckten Uferboden einzig ein alter Schuh und eine rot-weisse, nasse Mütze mit einem ziemlich zerzausten Bommel.
Und natürlich ein paar Nebelfetzen, die wie graue Strähnen in den kahlen Ästen der Bäume hängen.


*Ende*​
 
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