Roberto
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Vom Kuss soll die Rede sein. Nicht vom zärtlichen, liebevoll gehauchten Kuss, den sich Liebende zu schenken wissen; nicht vom freundschaftlichen Kuss, den man sich gegenseitig auf die Wange drückt. Der Kuss bietet mehr als Jenes, welches wir herkömmlicherweise darunter subsumieren. Wo man den Kuss erwähnt, da spielen sich im Geiste Liebesszenen ab, Leidenschaften, ja, daraus resultierende pornografische Kurzgeschichten. Und doch bietet der Kuss mehr.
Der Kuss brüskiert, er berührt den feindlich Gesinnten peinlich, setzt in liebender Form Grenzen. Es ist der Kuss des Kynikers. Wie ist dies zu verstehen? – Passend erscheint die populäre Parabel des Großinquisitors, in der Dostojewski seinen stummen Helden einer mittelalterlichen Form des Psychoterrors aussetzt. Der greise Großinquisitor eröffnet dem Gefangenen die Tatsache, am folgenden Morgen dem Scheiterhaufen überstellt zu werden, nebenbei entfesselt er eine wahre Tirade an Vorwürfen und Besserwissereien, die Er – der Name Jesu findet nicht einmal Erwähnung – still und lächelnd erträgt.
Alleine dies stille In-sich-hinein-lächeln, diese gezeigte Gleichgültigkeit offenbart die kynisch-stoische Art, mit der man Unmut ertragen kann, vielleicht sogar sollte. Aber dem nicht genug: Er legt dem Greis einen Kuss auf dessen welke Lippen, ein Kuss, der im Herzen des Kirchenmannes brennt. Wo der Großinquistor mit Hass und Zynismus aufwartete, maßt Er sich Liebe und kynisches Vorgehen an. Hier unterscheidet sich der Kuss Jesu vom Kuss des Judas, welchem nicht Kynismus, sondern in seiner wahrsten Form ein Ausdruck des Zynismus innewohnt.
Der Kuss der Brüskierung überrascht, er nährt die Erwartungshaltung des Peinigers nicht. Er macht sprachlos und stellt Jenen, der vielleicht auf Gewaltanwendung – körperlicher oder verbaler Art – wartet, vor ein Problem. Vieles spricht er schweigend aus. Einerseits versiegelt er die Lippen des Feindes, will damit sagen: Schweige still! Andererseits will er zum Ausdruck bringen, man liebe selbst seinen Feind wie sich selbst. Er mahnt und verbindet gleichermaßen.
Die Ohrfeige ist eine begrenzte Waffe auf dem weiten Feld der Brüskierung. Sie läßt eindeutig Verachtung, Feindschaft und Hass erkennen; läßt keinen Interpretationsspielraum zu. Die Nacktheit als provokatives Mittel seinen Unmut kundzutun, macht verächtlich, so wie wir es am Beispiele Adornos kennen, als man ihm in einer Vorlesung mit blankem Busen entgegentrat und er beschämt und mit Tränen in den Augen den Raum verließ. Weniger stilvoll, seinen Feind mit Sexualität zu brüskieren; eher zynisch, wenn man – gleich Freud – hinter jeder Tat des Lebens einen latenten sexuellen Trieb sucht – Frivolität als Triebfeder.
Vielleicht scheiterte die Studentenbewegung der späten Sechzigerjahre auch deshalb, weil zuviel Gewalt, zuviel Nacktheit und ein zu großes Maß an Sexualität zur Provokation gereicht wurde. Kann es also nicht sein, daß seinerzeit zu wenig geküßt wurde? – Keine Gewalt gegen den Springer-Konzern, die Dutschkisten hätten die journalistische Hetzkampagne mit einem Kuss entkräften sollen. So aber lieferten sie der Bild-Zeitung munter Material, welches doch darlegte, welch brutales Völkchen die Universitäten belagert. Statt „Enteignet Springer“, „Küßt Springer“!
Der Kuss entwaffnet, macht Peinlichkeit sichtbar. Gewalt schürt Gegengewalt - was aber, wenn Gewalt eine Liebestat erntet? So mag sich der Peiniger fragen: Was tue ich da? Ich molestiere einen liebenden, weil küssenden, Menschen! Ich molestiere ein Wesen, welches dazu in der Lage ist, Liebe zu verspüren! – Der Kuss ist die höchste Form der Provokation, des Auf-sich-aufmerksam-machens; der Kuss macht die Welt der Gewalttätigkeit anstößig; der Kuss überwindet die Untiefen des Zynismus und des Hasses.
Wo Gewalt mit Gegengewalt bekämpft wird, offenbart sich keine Alternative mehr. Der Bedrängte begibt sich auf die Stufe des Bedrängers. In einer Welt der sich wechselnden Gewaltanwendung, scheint es, als gäbe es keine Alternative. Erst der Kuss enthüllt neue Wege, macht die Lächerlichkeit des Hasses faßbar. Als das schwarze Amerika „We shall overcome“ sang, erkannte dies der Baptistenpastor aus Atlanta und radikalisierte seinen und seiner Anhänger Pazifismus. Im metaphorischen Sinne küßte er die Steinewerfer, die sich ihm und den Seinen in den Weg stellten; er küßte und erntete Anerkennung und ernsthafte Auseinandersetzung. Und der Kyniker stand dabei und stieß sein Lachen ins Fäustchen: „Recht geschieht’s den Gewalttätern! Jetzt haben sie keine Antwort parat! Sie sind entwaffnet, weil man ihre Waffen weggeküßt hat!“
Der Küssende ist Kyniker, denn er weiß, wie schlecht es um eine Sache oder um ihn bestellt ist und versucht dem mit Ironie zu begegnen. Sein Kuss ist zur Ironie getriebene Liebe. Der Zyniker aber küßt nie, jedenfalls nicht in dem Zustand, in dem der Kyniker küßt. Er weiß wie schlecht es um etwas oder jemanden steht und versucht daraus Nutzen zu ziehen; er küßt, wenn es ihm nützlich erscheint, ist ironisch, wenn er dadurch Profit erzielt.
Es ist das Doppelgestirn des bloßstellenden Kusses: Hier Diogenes, der mittels verschmitzter Durchtriebenheit seinem Widersacher entgegentritt und ihm provokativ den Kussmund zeigt; dort der biblische Jesus, der seinem Peiniger liebt, wie er sich selbst liebt. Zweiterer agiert gleichermaßen in Provokation, wie es der Mann aus Sinope tut. Er provoziert bei seinem Nächsten einen Nachdenkvorgang, während der Andere den Spott und das Lachen provoziert. Ausgelassenheit und Nachdenklichkeit: Der Januskopf des Menschlichen und gleichermaßen der Ausdruck des kynischen Kusses.
Der Kuss brüskiert, er berührt den feindlich Gesinnten peinlich, setzt in liebender Form Grenzen. Es ist der Kuss des Kynikers. Wie ist dies zu verstehen? – Passend erscheint die populäre Parabel des Großinquisitors, in der Dostojewski seinen stummen Helden einer mittelalterlichen Form des Psychoterrors aussetzt. Der greise Großinquisitor eröffnet dem Gefangenen die Tatsache, am folgenden Morgen dem Scheiterhaufen überstellt zu werden, nebenbei entfesselt er eine wahre Tirade an Vorwürfen und Besserwissereien, die Er – der Name Jesu findet nicht einmal Erwähnung – still und lächelnd erträgt.
Alleine dies stille In-sich-hinein-lächeln, diese gezeigte Gleichgültigkeit offenbart die kynisch-stoische Art, mit der man Unmut ertragen kann, vielleicht sogar sollte. Aber dem nicht genug: Er legt dem Greis einen Kuss auf dessen welke Lippen, ein Kuss, der im Herzen des Kirchenmannes brennt. Wo der Großinquistor mit Hass und Zynismus aufwartete, maßt Er sich Liebe und kynisches Vorgehen an. Hier unterscheidet sich der Kuss Jesu vom Kuss des Judas, welchem nicht Kynismus, sondern in seiner wahrsten Form ein Ausdruck des Zynismus innewohnt.
Der Kuss der Brüskierung überrascht, er nährt die Erwartungshaltung des Peinigers nicht. Er macht sprachlos und stellt Jenen, der vielleicht auf Gewaltanwendung – körperlicher oder verbaler Art – wartet, vor ein Problem. Vieles spricht er schweigend aus. Einerseits versiegelt er die Lippen des Feindes, will damit sagen: Schweige still! Andererseits will er zum Ausdruck bringen, man liebe selbst seinen Feind wie sich selbst. Er mahnt und verbindet gleichermaßen.
Die Ohrfeige ist eine begrenzte Waffe auf dem weiten Feld der Brüskierung. Sie läßt eindeutig Verachtung, Feindschaft und Hass erkennen; läßt keinen Interpretationsspielraum zu. Die Nacktheit als provokatives Mittel seinen Unmut kundzutun, macht verächtlich, so wie wir es am Beispiele Adornos kennen, als man ihm in einer Vorlesung mit blankem Busen entgegentrat und er beschämt und mit Tränen in den Augen den Raum verließ. Weniger stilvoll, seinen Feind mit Sexualität zu brüskieren; eher zynisch, wenn man – gleich Freud – hinter jeder Tat des Lebens einen latenten sexuellen Trieb sucht – Frivolität als Triebfeder.
Vielleicht scheiterte die Studentenbewegung der späten Sechzigerjahre auch deshalb, weil zuviel Gewalt, zuviel Nacktheit und ein zu großes Maß an Sexualität zur Provokation gereicht wurde. Kann es also nicht sein, daß seinerzeit zu wenig geküßt wurde? – Keine Gewalt gegen den Springer-Konzern, die Dutschkisten hätten die journalistische Hetzkampagne mit einem Kuss entkräften sollen. So aber lieferten sie der Bild-Zeitung munter Material, welches doch darlegte, welch brutales Völkchen die Universitäten belagert. Statt „Enteignet Springer“, „Küßt Springer“!
Der Kuss entwaffnet, macht Peinlichkeit sichtbar. Gewalt schürt Gegengewalt - was aber, wenn Gewalt eine Liebestat erntet? So mag sich der Peiniger fragen: Was tue ich da? Ich molestiere einen liebenden, weil küssenden, Menschen! Ich molestiere ein Wesen, welches dazu in der Lage ist, Liebe zu verspüren! – Der Kuss ist die höchste Form der Provokation, des Auf-sich-aufmerksam-machens; der Kuss macht die Welt der Gewalttätigkeit anstößig; der Kuss überwindet die Untiefen des Zynismus und des Hasses.
Wo Gewalt mit Gegengewalt bekämpft wird, offenbart sich keine Alternative mehr. Der Bedrängte begibt sich auf die Stufe des Bedrängers. In einer Welt der sich wechselnden Gewaltanwendung, scheint es, als gäbe es keine Alternative. Erst der Kuss enthüllt neue Wege, macht die Lächerlichkeit des Hasses faßbar. Als das schwarze Amerika „We shall overcome“ sang, erkannte dies der Baptistenpastor aus Atlanta und radikalisierte seinen und seiner Anhänger Pazifismus. Im metaphorischen Sinne küßte er die Steinewerfer, die sich ihm und den Seinen in den Weg stellten; er küßte und erntete Anerkennung und ernsthafte Auseinandersetzung. Und der Kyniker stand dabei und stieß sein Lachen ins Fäustchen: „Recht geschieht’s den Gewalttätern! Jetzt haben sie keine Antwort parat! Sie sind entwaffnet, weil man ihre Waffen weggeküßt hat!“
Der Küssende ist Kyniker, denn er weiß, wie schlecht es um eine Sache oder um ihn bestellt ist und versucht dem mit Ironie zu begegnen. Sein Kuss ist zur Ironie getriebene Liebe. Der Zyniker aber küßt nie, jedenfalls nicht in dem Zustand, in dem der Kyniker küßt. Er weiß wie schlecht es um etwas oder jemanden steht und versucht daraus Nutzen zu ziehen; er küßt, wenn es ihm nützlich erscheint, ist ironisch, wenn er dadurch Profit erzielt.
Es ist das Doppelgestirn des bloßstellenden Kusses: Hier Diogenes, der mittels verschmitzter Durchtriebenheit seinem Widersacher entgegentritt und ihm provokativ den Kussmund zeigt; dort der biblische Jesus, der seinem Peiniger liebt, wie er sich selbst liebt. Zweiterer agiert gleichermaßen in Provokation, wie es der Mann aus Sinope tut. Er provoziert bei seinem Nächsten einen Nachdenkvorgang, während der Andere den Spott und das Lachen provoziert. Ausgelassenheit und Nachdenklichkeit: Der Januskopf des Menschlichen und gleichermaßen der Ausdruck des kynischen Kusses.