• Willkommen im denk-Forum für Politik, Philosophie und Kunst!
    Hier findest Du alles zum aktuellen Politikgeschehen, Diskussionen über philosophische Fragen und Kunst
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst du eigene Themen verfassen und siehst wesentlich weniger Werbung

Der Kuss des Kynikers

Roberto

New Member
Registriert
30. Juni 2007
Beiträge
31
Vom Kuss soll die Rede sein. Nicht vom zärtlichen, liebevoll gehauchten Kuss, den sich Liebende zu schenken wissen; nicht vom freundschaftlichen Kuss, den man sich gegenseitig auf die Wange drückt. Der Kuss bietet mehr als Jenes, welches wir herkömmlicherweise darunter subsumieren. Wo man den Kuss erwähnt, da spielen sich im Geiste Liebesszenen ab, Leidenschaften, ja, daraus resultierende pornografische Kurzgeschichten. Und doch bietet der Kuss mehr.

Der Kuss brüskiert, er berührt den feindlich Gesinnten peinlich, setzt in liebender Form Grenzen. Es ist der Kuss des Kynikers. Wie ist dies zu verstehen? – Passend erscheint die populäre Parabel des Großinquisitors, in der Dostojewski seinen stummen Helden einer mittelalterlichen Form des Psychoterrors aussetzt. Der greise Großinquisitor eröffnet dem Gefangenen die Tatsache, am folgenden Morgen dem Scheiterhaufen überstellt zu werden, nebenbei entfesselt er eine wahre Tirade an Vorwürfen und Besserwissereien, die Er – der Name Jesu findet nicht einmal Erwähnung – still und lächelnd erträgt.

Alleine dies stille In-sich-hinein-lächeln, diese gezeigte Gleichgültigkeit offenbart die kynisch-stoische Art, mit der man Unmut ertragen kann, vielleicht sogar sollte. Aber dem nicht genug: Er legt dem Greis einen Kuss auf dessen welke Lippen, ein Kuss, der im Herzen des Kirchenmannes brennt. Wo der Großinquistor mit Hass und Zynismus aufwartete, maßt Er sich Liebe und kynisches Vorgehen an. Hier unterscheidet sich der Kuss Jesu vom Kuss des Judas, welchem nicht Kynismus, sondern in seiner wahrsten Form ein Ausdruck des Zynismus innewohnt.

Der Kuss der Brüskierung überrascht, er nährt die Erwartungshaltung des Peinigers nicht. Er macht sprachlos und stellt Jenen, der vielleicht auf Gewaltanwendung – körperlicher oder verbaler Art – wartet, vor ein Problem. Vieles spricht er schweigend aus. Einerseits versiegelt er die Lippen des Feindes, will damit sagen: Schweige still! Andererseits will er zum Ausdruck bringen, man liebe selbst seinen Feind wie sich selbst. Er mahnt und verbindet gleichermaßen.

Die Ohrfeige ist eine begrenzte Waffe auf dem weiten Feld der Brüskierung. Sie läßt eindeutig Verachtung, Feindschaft und Hass erkennen; läßt keinen Interpretationsspielraum zu. Die Nacktheit als provokatives Mittel seinen Unmut kundzutun, macht verächtlich, so wie wir es am Beispiele Adornos kennen, als man ihm in einer Vorlesung mit blankem Busen entgegentrat und er beschämt und mit Tränen in den Augen den Raum verließ. Weniger stilvoll, seinen Feind mit Sexualität zu brüskieren; eher zynisch, wenn man – gleich Freud – hinter jeder Tat des Lebens einen latenten sexuellen Trieb sucht – Frivolität als Triebfeder.

Vielleicht scheiterte die Studentenbewegung der späten Sechzigerjahre auch deshalb, weil zuviel Gewalt, zuviel Nacktheit und ein zu großes Maß an Sexualität zur Provokation gereicht wurde. Kann es also nicht sein, daß seinerzeit zu wenig geküßt wurde? – Keine Gewalt gegen den Springer-Konzern, die Dutschkisten hätten die journalistische Hetzkampagne mit einem Kuss entkräften sollen. So aber lieferten sie der Bild-Zeitung munter Material, welches doch darlegte, welch brutales Völkchen die Universitäten belagert. Statt „Enteignet Springer“, „Küßt Springer“!

Der Kuss entwaffnet, macht Peinlichkeit sichtbar. Gewalt schürt Gegengewalt - was aber, wenn Gewalt eine Liebestat erntet? So mag sich der Peiniger fragen: Was tue ich da? Ich molestiere einen liebenden, weil küssenden, Menschen! Ich molestiere ein Wesen, welches dazu in der Lage ist, Liebe zu verspüren! – Der Kuss ist die höchste Form der Provokation, des Auf-sich-aufmerksam-machens; der Kuss macht die Welt der Gewalttätigkeit anstößig; der Kuss überwindet die Untiefen des Zynismus und des Hasses.

Wo Gewalt mit Gegengewalt bekämpft wird, offenbart sich keine Alternative mehr. Der Bedrängte begibt sich auf die Stufe des Bedrängers. In einer Welt der sich wechselnden Gewaltanwendung, scheint es, als gäbe es keine Alternative. Erst der Kuss enthüllt neue Wege, macht die Lächerlichkeit des Hasses faßbar. Als das schwarze Amerika „We shall overcome“ sang, erkannte dies der Baptistenpastor aus Atlanta und radikalisierte seinen und seiner Anhänger Pazifismus. Im metaphorischen Sinne küßte er die Steinewerfer, die sich ihm und den Seinen in den Weg stellten; er küßte und erntete Anerkennung und ernsthafte Auseinandersetzung. Und der Kyniker stand dabei und stieß sein Lachen ins Fäustchen: „Recht geschieht’s den Gewalttätern! Jetzt haben sie keine Antwort parat! Sie sind entwaffnet, weil man ihre Waffen weggeküßt hat!“

Der Küssende ist Kyniker, denn er weiß, wie schlecht es um eine Sache oder um ihn bestellt ist und versucht dem mit Ironie zu begegnen. Sein Kuss ist zur Ironie getriebene Liebe. Der Zyniker aber küßt nie, jedenfalls nicht in dem Zustand, in dem der Kyniker küßt. Er weiß wie schlecht es um etwas oder jemanden steht und versucht daraus Nutzen zu ziehen; er küßt, wenn es ihm nützlich erscheint, ist ironisch, wenn er dadurch Profit erzielt.

Es ist das Doppelgestirn des bloßstellenden Kusses: Hier Diogenes, der mittels verschmitzter Durchtriebenheit seinem Widersacher entgegentritt und ihm provokativ den Kussmund zeigt; dort der biblische Jesus, der seinem Peiniger liebt, wie er sich selbst liebt. Zweiterer agiert gleichermaßen in Provokation, wie es der Mann aus Sinope tut. Er provoziert bei seinem Nächsten einen Nachdenkvorgang, während der Andere den Spott und das Lachen provoziert. Ausgelassenheit und Nachdenklichkeit: Der Januskopf des Menschlichen und gleichermaßen der Ausdruck des kynischen Kusses.
 
Werbung:
AW: Der Kuss des Kynikers

Hi Roberto,

dein Text gefällt mir.

Ich habe die Waffe des Kusses auch schon einmal vor langer Zeit in einer Disco angewendet. 3 Typen, leicht angetrunken und viel größer als ich, haben mich verbal und physisch provoziert. Als mich ein einer von ihnen gegen meinen Willen hochgehoben hat, um mich in die tanzende Menge zu schmeißen, habe ich ihm einen dicken Schmatzer auf seinen Mund gegeben. Er lies mich sofort los und putzte sich den Mund ab. Die anderen beiden haben sich kaputt gelacht. Alle 3 ließen von mir ab und suchten sich ein anderes Opfer.

Vielleicht kann ich deshalb, deinen Text so gut nachvollziehen.

:kuss1:
fussel
 
AW: Der Kuss des Kynikers

Alle 3 ließen von mir ab und suchten sich ein anderes Opfer.

Ziemlich unfair dem anderen Opfer gegenüber, findest Du nicht, Fussel? Hättest Du den drei Fieslingen schlicht und einfach das Nasenbein gebrochen (ich bin überzeugt, so hätte Hegelxx das erledigt), dann hätte es gar kein anderes Opfer gegeben, nur zufriedene Zuschauer deiner Tat, ein gut verdienendes Krankenhaus zur Beherbergung der drei Plattnasen, eine sich gut verkaufende Tageszeitung am nächsten Morgen, (mindestens) ein zufriedener, sich über ein neues Mandat und fusseligen Mandanten freuender Rechtsanwalt...

Kurzum: Deine Knutscherei war unsozial auf ganzer Linie, schäm Dich...
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
AW: Der Kuss des Kynikers

Kurzum: Deine Knutscherei war unsozial auf ganzer Linie, schäm Dich...
:eek:

Ich überlege gerade, ob das auch auf der Arbeit klappen würde. Nächstes Mal wenn mein Chef sich aufregt, werde ich ihn einfach mal küssen.:lachen:
Dann gibt es einen fusseligen Mandaten, der sich wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz rechtfertigen darf.

ich bekomme Lust dich zu küssen,;)
fussel

P.S. So, jetzt muss die Frau herhalten.:schritt:
 
Ueberdosis Sloterdijk?

fusselhirn schrieb:
...
Dann gibt es einen fusseligen Mandaten, der sich wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz rechtfertigen darf.

ich bekomme Lust dich zu küssen,;)
fussel

P.S. So, jetzt muss die Frau herhalten.

Fusselchen, das scheint mir äusserst vernünftig ;).

Ich überlegte gerade: Des Kynikers Kuss hat zweifelsohne was für sich!
Aaaaber: Den Ekel, einen Gewalttäter zu küssen, z.B. bei häuslicher Gewalt zu überwinden, ginge wahrscheinlich noch, denn die zwei haben sich einmal geliebt, tun es heute auf ihre Art vermutlich sogar noch irgendwie :)confused: )... aber wie steht's mit dem Küssen eines Gewalttäter ausserhalb? Und wer küsst, wird z.B. die Frau Opfer der Gewalt im Dabeisein ihres Partners?

Zwetsche, Hegelchen weckt in mir eher seltener helle Freude und Jubel, aber wäre ich Opfer eines Gewalttäter, freute mich doch die dreifach gebrochene Nase des Angreifers echt und ehrlich und mit Freude würde ich dann das Schmerzensgeld, das der Richter Hegelchen aufbrummte (und sogar dein, hoffentlich nicht überzogenes Honorar *lol*), bezahlen.

Tschuldigung, ich habe halt nur ein schlichtes Gemüt.

Roberto, etwas diffus scheint mir dein Hinweis auf Diogenes von Sinope, der die Kultur verschmähte und der Ueberlieferung nach, einmal in ein nobles Haus eingeladen, gebeten wurde, aus Rücksicht auf den Gastgeber nicht auf den Boden zu spucken (wie es sonst immer und überall seine Gewohnheit war). Tja, Diogenes holte daraufhin tief aus (Tschuldigung, dass es so eklig wird), hustete ab und spuckte dem Gastgeber voll ins Gesicht...nicht ohne noch die Bemerkung fallen zu lassen, es gäbe im ganzen Haus keinen geeigneteren bzw. schlimmeren Platz dazu.

Da würde ich doch den Diogenes liebend gerne wieder in die Tonne stecken... wie es viele schon Sloterdijk nachriefen und manchmal noch nachrufen *looool*, weil man zwar um den kalten philosophischen Brei gerne Gedankenschlangen winden kann, aber den Brei kaum wieder heiss schwadronieren wird können.

Es wird vermutlich schon einen Grund haben, warum mir gerade jetzt der eine Satz von Prof. Dr. Anz einfällt, den ich mal gelesen habe. Der ging ungefähr so: Jemand sollte uns Schafe vor dem Zynismus der Hirten retten und uns Schafen einen kecken Kynismus spenden, um sich ihm widersetzen zu können.

Tschuldigung, aber es reizte mich halt sehr, auch mal in einem "Philosophischen Quartett" dabei zu sein. Soll nicht wieder vorkommen *lol*.

Einen schönen Tag allen
C.
 
AW: Ueberdosis Sloterdijk?

Tschuldigung, aber es reizte mich halt sehr, auch mal in einem "Philosophischen Quartett" dabei zu sein. Soll nicht wieder vorkommen *lol*.
Ich find das gut. Auch Hühner sollten sich öfter an Philosophie beteiligen. Mach nur weiter so ;)

(Ich hoffe, dass ich Céline so zur Wut treiben kann, dass sie mir einen Kuss gibt :lachen: )
 
Wir küssen uns immer noch...

Ich find das gut. Auch Hühner sollten sich öfter an Philosophie beteiligen. Mach nur weiter so ;)

(Ich hoffe, dass ich Céline so zur Wut treiben kann, dass sie mir einen Kuss gibt :lachen: )

Robin, *gaaaaanzunschuldigfrag* möchtest du vielleicht, möglicherweise, eventuell... als nächstes grosses philosophisches Thema den Pferdekuss diskutieren?

:engel2:

PS: Den Engel nicht vergessen! Ich hab mir echt Mühe gegeben *loool* :kuss1:
 
AW: Ueberdosis Sloterdijk?

Zwetsche, Hegelchen weckt in mir eher seltener helle Freude und Jubel, aber wäre ich Opfer eines Gewalttäter, freute mich doch die dreifach gebrochene Nase des Angreifers echt und ehrlich und mit Freude würde ich dann das Schmerzensgeld, das der Richter Hegelchen aufbrummte (und sogar dein, hoffentlich nicht überzogenes Honorar *lol*), bezahlen.

Tschuldigung, ich habe halt nur ein schlichtes Gemüt.

Nicht so schüchtern, Céline! (Think positive!, siehe Nachbarthread, grins)
Ich wäre doch insoweit zumindest zuversichtlich, daß wir (drei) den Prozeß sowohl vor dem Strafgericht als auch dem Zivilgericht gewinnen und der jewilige Gegner die Kosten trägt, d.h. die Staatskasse gem. § 467 I StPO aufgrund des Freispruchs und die Plattnase aufgrund der Abweisung der Schmerzensgeldklage gem. § 91 ZPO.

Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, daß Dich jemand auch nur versuchen würde, auf den Arm zu nehmen und Du letzterenfalls überhaupt auf Hegelxx´ens Hilfe angewiesen wärst.

Was Hegelxx betrifft, denke ich durchaus, daß seine Motive ja lauter sein mögen (bin schon wieder gedanklich im Parallethread, in den letzten Tagen überschneiden sich ja fast alle threads im DF...), er also nur das Beste aus seinem vermeintlichen Beschützerinstikt und seiner Vitalität im Sinn hat und ihn mangelnde Zivilcourage ankotzt (was ihn durchaus ehrt). Ob er aber (wenn ich da z.B. an den notgeilen Kellner denke,...) in jedem Fall mit einem Freispruch wegen Notwehr rechnen könnte, ist bereits ziemlich fraglich, denn es dürfte doch wohl am gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff zum Zeitpunkt der "Notwehrhandlung" gefehlt haben.

Auch wundert mich an den vielen Hegelxx´n, die ich ja zur Genüge auch in meiner Kundschaft habe, immer, warum die dauernd und pausenlos im Gegensatz zu anderen Menschen in solche Situationen geraten und jetzt komm mir bitte keiner mit Pech, Schicksal oder sonstwas.

Sicher bin ich mir jedenfalls, daß Hegelxx sich auf seine Art (genau andersrum eben als Fussel, der das mit dem Küssen (bäh, schmeckt doch gar nicht..)über sich gebracht hat) sicherlich nach der Prügelei mit dem Barkeeper besser gefühlt hat, als wenn er nichts getan hätte, auch wenn er strafrechtlich eins auf die Nase bekommen könnte. Und das kann ich menschlich (wenn auch als Jurist diese Auffassung untragbar ist) irgendwie zumindest nachvollziehen. Fussel verdient aber nicht weniger Respekt. Das unterscheidet eben Typen wie Fussel und Hegelxx. Hegelxx würde vermutlich das Schmerzensgeld hinblättern, sich einen grinsen und erklären "das war´s mir wert". Fussel grinst nicht weniger, denkt an seine Gesundheit und seinen Seelenfrieden und sagt ebenso "das war´s mir wert"

Interessant ist aber gleichwohl die Gegenüberstellung dieser kontroversen Handlungsmöglichkeiten auch für diesen thread. Nur: Wer von beiden ist der Zyniker und wer der Kyniker?

Viele Grüße:kuss1:
Zwetsche
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
AW: Ueberdosis Sloterdijk?

Roberto, etwas diffus scheint mir dein Hinweis auf Diogenes von Sinope, der die Kultur verschmähte und der Ueberlieferung nach, einmal in ein nobles Haus eingeladen, gebeten wurde, aus Rücksicht auf den Gastgeber nicht auf den Boden zu spucken (wie es sonst immer und überall seine Gewohnheit war). Tja, Diogenes holte daraufhin tief aus (Tschuldigung, dass es so eklig wird), hustete ab und spuckte dem Gastgeber voll ins Gesicht...nicht ohne noch die Bemerkung fallen zu lassen, es gäbe im ganzen Haus keinen geeigneteren bzw. schlimmeren Platz dazu.

Natürlich liegt in des Kynikers Kuss nicht alleine Überraschungsmoment, Nächstenliebe, Charme und Witz, sondern eine große und grobe Portion Menschenverachtung. Eine Eigenschaft, die man fürwahr Diogenes von Sinope nachsagt, die aber nicht in jedem bezeugten oder eher nicht gesicherten Falle, allgegenwärtig war. Der Kuss des Diogenes ist ein metaphorischer, der sich vielleicht – wer weiß dies schon genau? – so nie abgespielt hat, aber durchaus in anderen Handlungen Anklang fand.

Selbsterniedrigung, um den Menschen zu verbildlichen, in welcher Suppe der Dummheit sie zuweilen schwimmen, gilt als Kampfeswaffe des Kynikers. Der Zyniker lacht vornehmlich über seine Nächsten, der Kyniker lacht über alle Menschen. Da er Mensch ist, spottet er auch über sich selbst. Glaubt man den Überlieferungen, so fand Diogenes’ Selbsterniedrigung vor aller Augen statt. Er kopulierte vor jedermann, fraß was ihm zugeworfen wurde, entleerte seinen Darm gut sichtbar. Auch war er sich nicht zu Schade, Erkenntnisse – oder das, was er dafür hielt – aufzunehmen. Als er sah, daß ein Junge mit der bloßen Hand Wasser aus einem Bach trank, warf der sowieso spartanisch ausgestattete Naturphilosoph seinen Holzbecher hinfort und verkündete, ein Kind habe dem große Diogenes Demut gelehrt.

Die Aversion, die er für Platon hegte ist legendär. Und obwohl er den Akademiegründer öffentlich bespöttelte und ihn zudem gelegentlich in seinen Lehren widerlegte, hegte Platon – sofern man auch hier den Geschichten glaubt - keinen Groll. Wenn er von einem „verrücktgewordenen Sokrates“ sprach, klingt einerseits Bewunderung mit, andererseits liebevolle Nähe. Diogenes schien nicht unbeliebt, auch wenn seine Derbheiten gefürchtet waren.

Ob die Derbheiten der Wahrheit oder der Legende entspringen, bleibt weiterhin Rätsel. Und dennoch gilt: Wo jemand mit humoristischer Menschenverachtung auftritt, da herrscht zumindest keine Ignoranz. Es mag Geschmackssache sein, seine Gastgeber ins Gesicht zu rotzen, über Verachtung durfte sich dieser Herr aber nicht beklagen. Auch hier gedachte er also noch seinen Mitmenschen, in widerlicher Form sicher, doch nicht weniger in Humor verstrickt als bei den üblichen, harmlosen Geschichtchen.

Getrost darf also vom Kuss des Diogenes gesprochen werden, wenn er auch vielleicht nie küssend in Erscheinung trat. Mit Humor begegnete er seinen Mitmenschen, lebte seine Philosophie, wie kaum ein Philosoph nach ihm. Dieser Kuss des Kynikers Diogenes spielt also auf das Humorige an, auf die Verschlagenheit, die in so einer Handlung stecken kann, auf den Überraschungseffekt. Der Kuss des Jesus, der gleichermaßen nicht verbürgt ist - sondern wohl nur Produkt des biblischen Jesus und nicht des Jeshua ben Joseph -, gibt die Liebe zum Nächsten preis. Die Schmach des Peinigers, wenn er erkennen muß, daß seine Handlung keinen Hass nährt. Das er, ganz alleine er, Unrecht tut. Dies ist das Zweigestirn des kynischen Kusses.

Letzteres aufgreifend: Menschlich verständlich, wenn man dem Peiniger an die Gurgel will. Und dennoch offenbart sich größere Menschlichkeit darin, den Hass, den man ins Gesicht geschleudert bekommt, mit Ebensolchem zu vergelten. Welch Größe in der stoischen Ruhe, im Stolz des Leidenden, im pazifistischen Sturbleiben.

Gelegentlich traf ein Stein die Stirn Martin Luther Kings. Und hier erhielt der Betrachter Einblick in die conditio humana. Berichtet wird nämlich, daß der Pastor wutentbrannt auf jene Steinwerfer losgehen wollte, nur einen kurzen Moment, dann maßregelte er sich selbst, fand zur Ruhe zurück. Aber er ignorierte den Hass nicht, den man ihn da faßbar-schmerzhaft an die Stirn ließ. Er wollte mit dem Fanatisierten sprechen und tat dies. Jene waren brüskiert, schämten sich, manchen sah man an, daß sie dies verwirrte. Gelegentlich regte er mit diesem Vorgehen zum Nachdenken an. Dies ist der Kuss der Nächstenliebe, ein Kuss in Form von Worten.

King war kein Übermensch, dies haben seine Reaktionen gezeigt. Aber er wußte, wenn ich Hass mit Hass bekämpfe, mache ich meine eigenen Ziele fadenscheinig. Im Affekt mag man zuschlagen, ja, soviel Hass steckt im Menschen, doch räsonierend nach einer gewalttätigen Lösung sehnen, um das eigene, sinnlose Gefühl nach Vergeltung zu befriedigen, läßt Unwohlsein zurück. Wenn den Menschen Gewalt entgegentritt, dann wollen sie diese ersticken, unsichtbar machen für alle Zeit. Greifen sie dann selbst zu den Waffen, ersetze sie den Hass durch den Hass. Welche Synthese der Vernunft soll daraus erwachsen?

Die Reaktion meines Nach- und Vorredners Fusselhirn mag natürlich der Not entsprungen sein, aber sie ist vorbildlich, humorvoll, nächstenliebend und, dies war wohl das Wichtigste, rettend. Sie haben die Angreifer lächerlich gemacht, nur durch das Lippenspitzen. Wo hätte es geendet, hätten Sie die Faust geballt? Wie oft ballt der Mensch die Faust und verstrickt sich dadurch immer tiefer im Gestrüpp der Gewalt? – Ja, lieber Fusselhirn, Ihre Reaktion ist wahrlich kynisch und ringt Respekt und ein Lächeln der Genugtuung ab.
 
Werbung:
AW: Ueberdosis Sloterdijk?

Nicht so schüchtern, Céline! (Think positive!, siehe Nachbarthread, grins) Ach, Zwetsche, du weisst doch selbst, wie schwer es hier manchmal fällt, positiv zu denken ;).
Ich wäre doch insoweit zumindest zuversichtlich, daß wir (drei) den Prozeß sowohl vor dem Strafgericht als auch dem Zivilgericht gewinnen...
Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, daß Dich jemand auch nur versuchen würde, auf den Arm zu nehmen und Du letzterenfalls überhaupt auf Hegelxx´ens Hilfe angewiesen wärst.

Na ja, danke, aber so sicher bin ich mir da nicht ;). Aber wäre ich auf Hegelchens Hilfe angewiesen, lieber Zwetsche, würde er mir nicht mehr helfen können, selbst wollte er das, denn er weilt ja nicht mehr unter uns.
Und dir bleibt ja demzufolge auch nur, dir immer wieder zu sagen: Nur Profi-Boxer können mir einem Schlag reich werden *looool*.
(Nur am Rande: Ich bin grundsätzlich gegen Gewalt und Boxen mag ich auch überhaupt nicht, obwohl das sogar eine olympische Sportart ist.)

Interessant ist aber gleichwohl die Gegenüberstellung dieser kontroversen Handlungsmöglichkeiten auch für diesen thread. Nur: Wer von beiden ist der Zyniker und wer der Kyniker?

Folge doch den rhetorischen Wortfiguren von Roberto, die jetzt seinen Eingangsbeitrag flanieren und flankieren, dann hast du doch die Antwort *looool*. Ich bin viel schlimmer dran, denn meinen Fragen hat er sich nicht gestellt. Die waren eben nicht philosophischer, sondern nur praktischer Natur.
Und jetzt fragst du dich sicher, warum ich so unhöflich bin, das in Antwort an dich zu schreiben, gell? Tja, Roberto hat mich zwar zitiert, aber nicht angesprochen, also antworte ich auch ganz allgemein:

Mir machen Wortfiguren und das Schwadronieren darüber eben keinen grossen Eindruck und auch keine Lust auf mehr, wenn man(n) sich den Fragen nicht stellt, sondern nur einfach "sein Ding" durchzieht, selbst wenn es sich evtl. um einen sich selbst gestellten pädagogischen Auftrag handelt, den man(n) mit so einem Thread zu erfüllen hofft *loool*, selbst dann nicht, ist alles gefällig verpackt.
Wenn ich mir nämlich vorstelle, wie jemand seine Grösse in stoischer Ruhe demonstriert, sich am Stolz der/des Leidenden labt und pazifistisch stur bleibt, wenn z.B. seine Freundin vergewaltigt wird (und auf genau diesen Sachverhalt wollte ich die Aufmerksamkeit lenken, wie man ganz unschwer erkennen kann), dann ist auch für mich der Wert eines Kyniker ausgemacht.
Aber darüber unterhalten wir uns eben nicht, es soll vielleicht eher ein Thread werden, der geneigtes, exklusives Publikum anspricht, so in etwa wie wir es z.T. vom Feuilleton einer Zeitung gewohnt sind. Dann halt.
Dann halt, sage ich aber auch ganz klar wieder:
Jemand sollte uns Schafe vor dem Zynismus der Hirten retten und uns Schafen einen kecken Kynismus spenden, um sich ihm widersetzen zu können.

Natürlich kann man sich aus jeder Weltanschauung nur das Beste (subjektiv natürlich) herauspicken und so gesehen, ist der Kuss des Kynikers sicher ein probates Mittel für viele Situationen, die man abschätzen kann.
Ich habe durchaus ein Schmunzeln und auch eine Menge Respekt für Fusselchens Tat übrig. Aaaaaber...bin mir ziemlich sicher, allein und in einer dunkler Gasse hätte er anders reagiert und ebenfalls anders hätte er reagiert, wäre z.B. seine Frau angegriffen worden.
Es ist eben nur eine der Möglichkeiten, über die es sich nachzudenken lohnt, eine Erweiterung, ein anderer Blickwinkel, ein Verlassen des ausgetretenen Pfades müsste aber auch erlaubt sein.

Ich erlaube mir z.B., den alten Kyniker und den Zyniker (es gab Zeiten, da unterscheidete man nicht!) 1:1 ins Heute zu versetzen und ich gestehe, da ist mir der heutige Zyniker lieber. Der Kyniker (immer noch 1 : 1 gedacht) ist/wäre*lol* nämlich jemand, der die Gesellschaft verachtet und verhöhnt, von ihr aber ganz schamlos lebt, dafür verhöhnt er sie gleich nochmals. Der Zyniker hat wenigstens den Anstand, sich von der Gesellschaft, die er keinesfalls verachtet, sondern an der er verzweifelt/verzweifelte, nicht aushalten zu lassen.
Das ist meine Sicht, mehr hab ich dazu momentan nicht zu sagen.

Einen schönen Tag allen und dir, Zwetsche, einen lieben Gruss dazu
C.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Zurück
Oben