Die beiden kannten sich. Im Januar des Jahres 1994 hatten sie sich auf einem WG-Fest kennengelernt. Beide hatten als Neu-Berliner ein beschissenes Sylvester hinter sich. Gegenseitig erzählten sie sich ihre Erlebnisse und kamen sich dadurch näher. Saskia hatte blonde, glatte Haare, die sie in einem Pagenschnitt mit Seitenscheitel trug, eine Frisur, der sie immer treu bleiben sollte. Sie wirkte durch ihre kurzen Beine leicht untersetzt und besaß ein offenes Gesicht mit honigfarbenem Teint. Ronald war fast zwei Köpfe größer als sie, sehr schmalgliedrig mit leicht nach vorne fallenden Schultern, was dadurch noch betont wurde, dass er sich aufmerksam zu Saskia hinunterbeugte, als er ihr, mit einem Lächeln in seinem hübschen schmalen Gesicht, zuhörte.
Saskia war an Sylvester mit zwei Kommilitonen, die ebenfalls neu in Berlin waren und beide etwas von ihr wollten, auf eine Uni-Party gegangen. Saskia wollte von keinem der beiden etwas, fand aber zumindest einen ganz nett, den anderen hatte sie aus Mitleid nicht abwimmeln wollen. Die Party war von Jurastudenten veranstaltet worden, irgendjemand hatte gesagt, die Jurapartys seien die besten. Die Jurastudenten hatten eine südamerikanische Gruppe engagiert, die in einem ziemlich zugigen, nicht sehr vollen Saal aufspielten. Bier, Orangensaft und Sekt gab es an einer behelfsmäßigen Bar in Plastikbechern. Die Jurastudenten teilten sich auf in die Smarten und die Unsmarten. Die Smarten wussten bessere Partys und verließen den Saal weit vor Zwölf. Die Anderen wussten keine besseren Partys und blieben.
Saskia und ihre zwei Begleiter wussten keine bessere Party, aber um viertel vor Zwölf überkam Saskia die Panikvorstellung, ihr erstes Sylvester in Berlin auf dieser inzwischen halb leeren Party verbringen zu müssen. Das teilte sie dem netteren ihrer zwei Begleiter, mit dem sie sich die meiste Zeit mehr recht als schlecht unterhielt, mit, und sie beschlossen, den Jahreswechsel lieber irgendwo, und sei es auf der Straße, zu verbringen, als auf der Juraparty. Als sie gerade gehen wollten, kam der andere Kommilitone, der übrigens nach dieser Nacht weder mit Saskia noch dem anderen Typen je wieder reden sollte und der sein Studium im zweiten Semester abbrach, von der Bar zurück, und da er nicht wusste, was er sonst machen sollte, tappte er den Beiden einfach hinterher. Saskia zerriss es in diesem Moment das Herz, vor Selbstmitleid, aber auch aus Mitleid für diesen Trottel. Ihr zweiter Begleiter kochte vor Wut, denn er hatte geglaubt, dass nun seine Chance kommen würde, mit Saskia allein in der Nacht. Die drei liefen irgendwie los, eigentlich waren es zwei, die einen dritten halbrechts mitschleppten, ein wortloses Dreigestirn im Sternbild Absurdus. Sie gingen durch eine Gegend Berlins, wo leider bis auf die Uni nicht viel los war. Saskia schlug vor, sich ein Taxi zu nehmen und wandte sich dabei auch an den Dritten, um ihn wieder ein bisschen zu integrieren. Der schluckte irgendetwas hinunter und meinte, sie würden bestimmt kein Taxi finden um diese Zeit in dieser Nacht. Er sollte Recht behalten, obwohl sein Kommilitone sich bemühte, zu Straßenecken vorlief oder wild Taxis hinterherwinkte, deren erloschenens Signal deutlich zeigte, dass sie besetzt waren. Schließlich ging irgendwie das Feuerwerk los, von dem man allerdings in diesem Stadtteil auch nicht besonders viel mitbekam. Weit weg, am Alexanderplatz, ging ein buntes Spektakel los, wie ein fernes Wetterleuchten. Irgendwann konnte Saskia nicht länger ignorieren, dass es Zwölf geschlagen hatte und umarmte verkrampft ihre Begleiter. Der Eine, dessen Testosteron verrückt spielte, versuchte trotz der ungünstigen Situation, Saskia auf den Mund zu küssen, so dass sie ziemlich nachdrücklich ausweichen musste. Der Andere vollführte das Ritual eher mürrisch. Danach verkündete Saskia, dass sie nun nach Hause wollte, bedanke sich für den netten Abend und eilte davon. Die beiden Anderen mussten zufällig dieselbe U-Bahn benutzen, der Eine tat jedoch so, als ob er noch nicht heim wollte und stand dann 20 Minuten alleine unter ein paar Übriggebliebenen auf dem U-Bahnhof, bis die nächste Bahn kam. Es war sehr kalt in dieser Nacht.
Ronalds Sylvester war nicht besser gewesen, erzählte er Saskia auf der WG-Party. Seine Mutter war zu Besuch gekommen. Sie hatten ausgemacht, dass sie schön essen gehen würden. Dann wollte Ronald seine Mutter im Hotel absetzen und sich noch mit ein paar Kumpels in einem Club treffen. Der Abend begann eigentlich ganz gut. Ronald, der seine Mutter mochte, hatte einen Tisch in einem netten Restaurant bestellt, das tatsächlich nicht zu voll, nicht zu teuer und nicht zu laut war. Das Essen war gut. Dann kam seine Mutter auf ein Thema zu sprechen, mit dem Ronald nicht gerechnet hatte. Nachdem seine Großmutter gestorben war, waren er mit seinen zwei Geschwistern und seiner Mutter Erben ihres Hauses und insbesondere des inzwischen recht wertvollen Grundstückes geworden. Seine Mutter und seine Geschwister wollten das Grundstück verkaufen, die Immobilienpreise waren ganz oben, dem älteren Ehepaar, das seine Großmutter ein Stockwerk vermietet hatte, sollte gekündigt werden mit angeblichem Eigenbedarf. Ronalds Bruder, ein Jurastudent, hatte diesen Plan ausgeheckt und seine Mutter, die wenig Geld besaß, zur Zustimmung überredet. Seiner Schwester war sowieso alles egal. Ronald war über den Plan äußerst empört. Er würde einem Verkauf nicht zustimmen, bevor die Mieter entweder freiwillig ausgezogen wären oder verstorben. Seine Mutter bedrängte ihn. Der Zeitpunkt sei gerade so günstig. Und sie selbst habe nur so wenig Geld zur Verfügung und wollte das Leben noch ein bisschen genießen, bevor sie endgültig alt würde. Sie sei nicht alt und sie könne ihr Leben jederzeit genießen, entgegnete Ronald wütend. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt mit seiner Mutter so gestritten hatte oder ob überhaupt je. Schließlich einigten sie sich darauf, dass Problem zu vertagen, es sei ja immerhin Sylvester. Ronald drückte betrübt seine Mutter an sich, als er sie in der Hotelhalle verabschiedete. Zudem war es über den Streit später geworden als geplant. Es war bereits halbzwölf. Ronald wollte mit dem Taxi zum Club fahren, er fand aber keines um diese Zeit, in dieser Nacht. Er brauchte mit der U-Bahn und zu Fuß 35 Minuten bis er zum verabredeten Ort kam. Das Feuerwerk erlebte er auf der Straße, der Club war schon in Sichtweite. Seine Kumpel hatten natürlich nicht mehr gewartet und waren schon hinein gegangen. Der Türsteher schickte ihn mit einem bedauernden Grinsen weg. Nichts ging mehr, viel zu voll. Ronald war zu stolz, um ihn zu beflehen und überhaupt nicht mehr in Partystimmung. Er brauchte nochmals 45 Minuten, um nach Hause zu kommen. Es war sehr kalt in dieser Nacht.
Auf der WG-Fete fand Saskia es sehr edel von Ronald, dass er die alten Leute nicht aus dem Haus jagen wollte. Ronald grinste und meinte aber, ein Edler sei er gewiss nicht. Saskia gab ihm in einer spontanen Anwandlung einen Kuss auf die Wange. Dann wurde sie ganz furchtbar rot und um beide war es geschehen.