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Das Wunder der Tuckolskystraße

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Robin

Guest
Die Tucholskystraße in Berlin-Mitte bildet mit der Oranineburgerstraße und der Auguststraße ein Dreieck. Letztere Straße ist bekannt für ihre Galerien, zweitere für Prostitution und Tourismus und die Tucholskystraße selbst für einige ziemlich angesagte Kneipen.
Im September 2004 geschah in dieser Straße ein Wunder. Genau die zwei Menschen, die füreinander nötig waren, begegneten sich. Es handelte sich um Ronald P. und Saskia C., die zu diesem Zeitpunkt beide 31 Jahre alt waren.
 
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Die beiden kannten sich. Im Januar des Jahres 1994 hatten sie sich auf einem WG-Fest kennengelernt. Beide hatten als Neu-Berliner ein beschissenes Sylvester hinter sich. Gegenseitig erzählten sie sich ihre Erlebnisse und kamen sich dadurch näher. Saskia hatte blonde, glatte Haare, die sie in einem Pagenschnitt mit Seitenscheitel trug, eine Frisur, der sie immer treu bleiben sollte. Sie wirkte durch ihre kurzen Beine leicht untersetzt und besaß ein offenes Gesicht mit honigfarbenem Teint. Ronald war fast zwei Köpfe größer als sie, sehr schmalgliedrig mit leicht nach vorne fallenden Schultern, was dadurch noch betont wurde, dass er sich aufmerksam zu Saskia hinunterbeugte, als er ihr, mit einem Lächeln in seinem hübschen schmalen Gesicht, zuhörte.
Saskia war an Sylvester mit zwei Kommilitonen, die ebenfalls neu in Berlin waren und beide etwas von ihr wollten, auf eine Uni-Party gegangen. Saskia wollte von keinem der beiden etwas, fand aber zumindest einen ganz nett, den anderen hatte sie aus Mitleid nicht abwimmeln wollen. Die Party war von Jurastudenten veranstaltet worden, irgendjemand hatte gesagt, die Jurapartys seien die besten. Die Jurastudenten hatten eine südamerikanische Gruppe engagiert, die in einem ziemlich zugigen, nicht sehr vollen Saal aufspielten. Bier, Orangensaft und Sekt gab es an einer behelfsmäßigen Bar in Plastikbechern. Die Jurastudenten teilten sich auf in die Smarten und die Unsmarten. Die Smarten wussten bessere Partys und verließen den Saal weit vor Zwölf. Die Anderen wussten keine besseren Partys und blieben.
Saskia und ihre zwei Begleiter wussten keine bessere Party, aber um viertel vor Zwölf überkam Saskia die Panikvorstellung, ihr erstes Sylvester in Berlin auf dieser inzwischen halb leeren Party verbringen zu müssen. Das teilte sie dem netteren ihrer zwei Begleiter, mit dem sie sich die meiste Zeit mehr recht als schlecht unterhielt, mit, und sie beschlossen, den Jahreswechsel lieber irgendwo, und sei es auf der Straße, zu verbringen, als auf der Juraparty. Als sie gerade gehen wollten, kam der andere Kommilitone, der übrigens nach dieser Nacht weder mit Saskia noch dem anderen Typen je wieder reden sollte und der sein Studium im zweiten Semester abbrach, von der Bar zurück, und da er nicht wusste, was er sonst machen sollte, tappte er den Beiden einfach hinterher. Saskia zerriss es in diesem Moment das Herz, vor Selbstmitleid, aber auch aus Mitleid für diesen Trottel. Ihr zweiter Begleiter kochte vor Wut, denn er hatte geglaubt, dass nun seine Chance kommen würde, mit Saskia allein in der Nacht. Die drei liefen irgendwie los, eigentlich waren es zwei, die einen dritten halbrechts mitschleppten, ein wortloses Dreigestirn im Sternbild Absurdus. Sie gingen durch eine Gegend Berlins, wo leider bis auf die Uni nicht viel los war. Saskia schlug vor, sich ein Taxi zu nehmen und wandte sich dabei auch an den Dritten, um ihn wieder ein bisschen zu integrieren. Der schluckte irgendetwas hinunter und meinte, sie würden bestimmt kein Taxi finden um diese Zeit in dieser Nacht. Er sollte Recht behalten, obwohl sein Kommilitone sich bemühte, zu Straßenecken vorlief oder wild Taxis hinterherwinkte, deren erloschenens Signal deutlich zeigte, dass sie besetzt waren. Schließlich ging irgendwie das Feuerwerk los, von dem man allerdings in diesem Stadtteil auch nicht besonders viel mitbekam. Weit weg, am Alexanderplatz, ging ein buntes Spektakel los, wie ein fernes Wetterleuchten. Irgendwann konnte Saskia nicht länger ignorieren, dass es Zwölf geschlagen hatte und umarmte verkrampft ihre Begleiter. Der Eine, dessen Testosteron verrückt spielte, versuchte trotz der ungünstigen Situation, Saskia auf den Mund zu küssen, so dass sie ziemlich nachdrücklich ausweichen musste. Der Andere vollführte das Ritual eher mürrisch. Danach verkündete Saskia, dass sie nun nach Hause wollte, bedanke sich für den netten Abend und eilte davon. Die beiden Anderen mussten zufällig dieselbe U-Bahn benutzen, der Eine tat jedoch so, als ob er noch nicht heim wollte und stand dann 20 Minuten alleine unter ein paar Übriggebliebenen auf dem U-Bahnhof, bis die nächste Bahn kam. Es war sehr kalt in dieser Nacht.
Ronalds Sylvester war nicht besser gewesen, erzählte er Saskia auf der WG-Party. Seine Mutter war zu Besuch gekommen. Sie hatten ausgemacht, dass sie schön essen gehen würden. Dann wollte Ronald seine Mutter im Hotel absetzen und sich noch mit ein paar Kumpels in einem Club treffen. Der Abend begann eigentlich ganz gut. Ronald, der seine Mutter mochte, hatte einen Tisch in einem netten Restaurant bestellt, das tatsächlich nicht zu voll, nicht zu teuer und nicht zu laut war. Das Essen war gut. Dann kam seine Mutter auf ein Thema zu sprechen, mit dem Ronald nicht gerechnet hatte. Nachdem seine Großmutter gestorben war, waren er mit seinen zwei Geschwistern und seiner Mutter Erben ihres Hauses und insbesondere des inzwischen recht wertvollen Grundstückes geworden. Seine Mutter und seine Geschwister wollten das Grundstück verkaufen, die Immobilienpreise waren ganz oben, dem älteren Ehepaar, das seine Großmutter ein Stockwerk vermietet hatte, sollte gekündigt werden mit angeblichem Eigenbedarf. Ronalds Bruder, ein Jurastudent, hatte diesen Plan ausgeheckt und seine Mutter, die wenig Geld besaß, zur Zustimmung überredet. Seiner Schwester war sowieso alles egal. Ronald war über den Plan äußerst empört. Er würde einem Verkauf nicht zustimmen, bevor die Mieter entweder freiwillig ausgezogen wären oder verstorben. Seine Mutter bedrängte ihn. Der Zeitpunkt sei gerade so günstig. Und sie selbst habe nur so wenig Geld zur Verfügung und wollte das Leben noch ein bisschen genießen, bevor sie endgültig alt würde. Sie sei nicht alt und sie könne ihr Leben jederzeit genießen, entgegnete Ronald wütend. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt mit seiner Mutter so gestritten hatte oder ob überhaupt je. Schließlich einigten sie sich darauf, dass Problem zu vertagen, es sei ja immerhin Sylvester. Ronald drückte betrübt seine Mutter an sich, als er sie in der Hotelhalle verabschiedete. Zudem war es über den Streit später geworden als geplant. Es war bereits halbzwölf. Ronald wollte mit dem Taxi zum Club fahren, er fand aber keines um diese Zeit, in dieser Nacht. Er brauchte mit der U-Bahn und zu Fuß 35 Minuten bis er zum verabredeten Ort kam. Das Feuerwerk erlebte er auf der Straße, der Club war schon in Sichtweite. Seine Kumpel hatten natürlich nicht mehr gewartet und waren schon hinein gegangen. Der Türsteher schickte ihn mit einem bedauernden Grinsen weg. Nichts ging mehr, viel zu voll. Ronald war zu stolz, um ihn zu beflehen und überhaupt nicht mehr in Partystimmung. Er brauchte nochmals 45 Minuten, um nach Hause zu kommen. Es war sehr kalt in dieser Nacht.
Auf der WG-Fete fand Saskia es sehr edel von Ronald, dass er die alten Leute nicht aus dem Haus jagen wollte. Ronald grinste und meinte aber, ein Edler sei er gewiss nicht. Saskia gab ihm in einer spontanen Anwandlung einen Kuss auf die Wange. Dann wurde sie ganz furchtbar rot und um beide war es geschehen.
 
Es dauerte aber noch drei Wochen, bis sie zusammen kamen. Damals nahmen sie alles im Leben noch ziemlich ernst. Drei Wochen waren eine lange Zeit für die beiden Zwanzigjährigen. Beide sollten diese Zeit später als eine ihrer schönsten in ihrem Leben bezeichnen. Sie küssten sich das erste Mal in Saskias WG während des Lieds „Rock Lobster“ von den B 52‘s. Als sie zu knutschen aufhörten, drehte sich die Platte längst in der letzten Rille, damals gab es noch Schallplatten.
Ronald und Saskia verbrachten ein wunderschönes Frühjahr zusammen. Sie gingen nicht auf dieselbe Uni, trafen sich jedoch oft in einer Mensa. Es gab jede Woche eine Party, es gab jede Woche Konzerte. Saskia rasierte sich in diesem Frühjahr das erste Mal unter den Achseln und schleppte Ronald auf Ausstellungen, in Museen oder Galerien. Ronald nahm Saskia in Clubs mit. Saskia tanzte total gerne und Ronald schaute ihr total gerne zu. Er selbst spielte ein bisschen mit dem Gedanken, Platten aufzulegen, ein Traum, den er sich niemals in seinem Leben verwirklichen sollte. Im Sommer besuchten sie zusammen die Love Parade, die schon ganz schön groß geworden war, aber noch nicht so groß, dass es keinen Spaß machte. In der Nacht machten sie zum ersten und auch zum letzten Mal Sex im Freien. Das fanden sie total abgefahren, aber aus irgendeinem Grund taten sie es nie wieder.
Eine Woche später kaufte Ronald einen gebrauchten VW Polo und überredete Saskia, mit ihm nach Italien zu fahren. Saskia hatte kein Geld, aber Ronald behaupte, das mache nichts, sie brauchten nur ein Zelt, einen Kassettenrekorder und Geld fürs Benzin. Also stimmte sie zu. Sie wollte unbedingt mal Florenz sehen.
Die ersten zehn Tage verliefen nicht schlecht. Sonnenbrände, Mückenstiche, überlaufene Campingplätze, immer nur Nudeln, das alles wurde aufgewogen durch tolle Landschaften, romantische Nächte am Lagerfeuer, nette Urlaubsbekanntschaften und die Tatsache, dass sie Florenz besuchten. In dieser Zeit lernten sie übrigens mich kennen. Ich war mit dem Motorrad nach Rom unterwegs, wo ich einen Freund besuchen wollte. Ich war damals 30. Mittags sah ich die beiden auf dem Campingsplatz, sich streitend, ich sah die sonnenverbrannte Haut Saskias, ich sah die ungepflegten Bartstoppeln Ronalds, ich sah sie lachend sich umarmen, ich sah, wie Ronald an der Supermarktkasse der Geldbeutel herunterfiel und Saskia auf dem Boden herumkriechen, um die Lira aufzusammeln. Ich kaufte einen ziemlich guten Wein, Käse, Baguette und Oliven und lud die beiden zum Abendessen ein. Ich erfuhr, dass Saskia Kunstgeschichte studierte und Ronald Musikwissenschaft und Anglistik. Saskia zeigte mir im Lagerfeuerlicht ein paar ihrer Zeichnungen, die sie unterwegs gemacht hatte. Ich war beeindruckt und neidisch auf Ronald, denn sie roch sehr gut. Ich sagte ihr, sie solle doch Kunst oder Design oder so studieren und Ronald redete ich zu, sich um sein DJ-Ding zu kümmern, ich weiß nicht, warum ich das tat.
Als ich am nächsten Morgen weiterfuhr, ging es mit den beiden schlagartig bergab. Saskia bekam ihre Tage, was sie immer für mindestens einen Tag depressiv werden ließ. Sie beschlossen, einen Tag länger auf dem Platz zu bleiben, aber als Ronald mit dem Polo losfuhr, um einen billigeren Supermarkt als den auf dem Campingplatz zu suchen, bekam er einen Platten. Das Reserverad war auch hinüber und er brauchte den halben Tag, um mit Händen und Füßen und dem letzten Geld irgendwie den Wagen wieder flott zu bekommen. Als er am späten Nachmittag zurückkam, war Saskia halbkrank vor Sorge und schrie ihn an, er hätte gefälligst erst ihr Bescheid sagen sollen, bevor er sich um alles kümmerte. Das verletzte Ronald sehr, dem die Odyssee der letzten fünf Stunden den letzten Nerv geraubt hatte. Den Rest des Abends heulte Saskia zum großen Teil, während sich Ronald per Kopfhörer mit Techno volldröhnte. In der Nacht versöhnten sie sich wieder, dann aber wollte Ronald irgendwie Sex machen, was Saskia total scheiße und unsensibel fand.
Am nächsten Morgen fuhren sie weiter, wobei sie ahnungsvoll wieder die Richtung nach Norden einschlugen. Nach drei Stunden Fahrt versagte das Getriebe des Polos. Schon seit Wochen war Getriebeöl ausgetropft von Ronald und vielleicht auch vom Vorbesitzer unbemerkt. Fortan konnten sie nicht mehr als 40 fahren. Saskia bekam einen erneuten Heulkrampf. Mit Müh und Not retteten sie sich in die nächste größere Stadt, wo Ronald das wirklich allerletzte Geld zusammenkratzte und Saskia eine Fahrkarte nach Berlin kaufte. Tränenreich verabschiedeten sie sich am Bahnhof, seltsamerweise noch nicht wissend, dass alles vorbei war.
Ronald hatte sich in den Kopf gesetzt, den Polo irgendwie bis Berlin zu bringen und wenn er die ganze Strecke mit Tempo 40 fahren würde. In der Schweiz gab die Karre endgültig den Geist auf und Ronald, verzweifelt, hungrig und wütend, trat eine Viertelstunde auf die Blechkiste ein, ehe er seine wichtigsten Siebensachen zusammenpackte und den Daumen raus hielt. Er brauchte 18 Stunden nach Berlin. Noch bevor er sich unter die Dusche stellte, rief er Saskia an, die ihm kühl mitteilte, dass sie einen Hilfsjob auf einer Kunstmesse bekommen habe und ihn erst in drei Tagen sehen könnte, da sie rund um die Uhr auf den Beinen sein würde und überhaupt noch ziemlich fertig sei vom Urlaub.
Ronald knallte den Hörer auf die Gabel und trieb sich die nächsten drei Nächten in allen angesagten Clubs herum. Am dritten Morgen fand er im Briefkasten ein Schreiben seines Bruders vor, der ihn nochmals bedrängte, doch dem Verkauf, beziehungsweise der vorhergehenden Kündigung der Mieter endlich zuzustimmen. Ronald fand einen Kugelschreiber, unterschrieb die vorbereitete Vollmacht und war damit quasi um 120 000 DM reicher.
Am nächsten Tag traf er sich mit Saskia und sie trennten sich ohne großes Drama.
 
Bald darauf rief mich Saskia das erste Mal an. Wir hatten in Italien Telefonnummern ausgetauscht. Sie wirkte recht gefasst und ernsthaft. Sie sagte, sie wolle die nächste Zeit lieber keine Beziehung eingehen und sich lieber um ihr Leben und ihre Zukunft kümmern. Wenn sie mal wieder eine Beziehung eingehen würde, dann mit jemanden Reiferem. Außerdem hätte sie gerne jemand „Geistvollen“, wie sie es nannte. Ich fühlte mich in dem Moment viel zu alt für sie. Dennoch blieben die nächsten Jahre befreundet, wobei die Initiative fast immer von ihr ausging, als wolle sie unsere Freundschaft genauso ernsthaft pflegen wie ab da ihr Leben.
Ein Jahr später sattelte sie von Kunstgeschichte auf Grafikdesign um. Der Internetboom war damals noch nicht ausgebrochen, er deutete sich höchstens an. Saskia sah sich zu der Zeit als Künstlerin an, die auch Gebrauchsgrafik machen würde, aber nicht ausschließlich. Nicht unter den Grafikern aber unter den Malern fand sie dann den ernsthaften und geistvollen jungen Mann, den sie suchte. Ich lernte ihn vor allem als schweigsam kennen. Er trug die braunen Haare mittellang und meist einen schütteren Vollbart, der sich nie zu Männlichkeit verdichtete. Er malte mit Akribie auf einer Leinwand eine Reihe von ca. 20 Miniaturen, jedes in einem kleinen Rahmen liebevoll abgebildet, meist waren es Insekten oder Meerestiere. Auf diese Leinwand schüttete er später nach dem Zufallsprinzip Essenreste, von Spaghetti Bolognese bis Gemüsesuppe, die er dann dort trocknen und verrotten ließ. Diese Bilder fanden großen Anklang bei seinem Professor, verkauften sich aber nur sehr mäßig, vielleicht wegen ihres Geruchs. Saskia liebte ihn sehr ernsthaft, geriet aber nie in Zweifel über ihre eigene Kunst. Er sei auf seine Weise genial, sie selbst aber mache ihr Ding, sagte sie, und ihr Ding waren sehr dekorative Grafiken. Seit sie ihren Malerfreund hatte, sahen wir uns weniger, aber immer noch regelmäßig ungefähr jedes halbe Jahr. Durch Zufall bekam sie eine kleine 2-Zimmer-Wohnung in der Oranienburgerstraße, in der auch heute noch die Nutten stehen. Sie verdiente wenig Geld und musste weiterhin in Kneipen und auf Kunstmessen jobben. Trotzdem wirkte sie zufrieden. Allerdings habe ich sie niemals wieder so lachen sehen, wie auf dem Campingplatz in Italien, als ich sie das erste Mal sah.
Ronald traf ich erst drei Jahre nach unserem Kennenlernen zufällig auf einer Party wieder. Er sah ziemlich gut aus in seinem schicken Anzug. Es war natürlich kein Spießeranzug, eher eine Art 50er-Jahre Retro-Modell. Er wirkte smart, sehr smart. Er war erst sehr unsicher, als er mich sah, dann aber taute er schnell auf. Er war ziemlich überrascht, als er hörte, dass ich mit Saskia noch Kontakt hatte. Ich machte ihm klar, dass ich nie etwas mit ihr gehabt hatte, weil ich glaubte, das könnte wichtig für ihn sein. Ronald machte alles Mögliche, weit vor dem Aktienboom stieg er bereits an der Börse ein und besaß ein geschicktes Händchen. Außerdem gründete er mehrere kleine Firmen und löste sie wieder auf, wobei er weder reich wurde, noch große Verluste tätigte. Mal ging es um Eventmanagement in der Clubsszene, dann um Marketing und auch beim Internet mischte er schon mit. Sein Studium lief nur noch so nebenher. Viel von dem Geld, das er verdiente, so vertraute er mir an, ging für Prostituierte drauf. Stolz und Sarkasmus schwangen in seiner Stimme mit, als er mir davon erzählte. In dem Moment merkte ich, dass er sehr viel getrunken hatte. Ich gab ihm meine Telefonnummer, doch es dauerte lange, bis ich ihn wieder sah.
 
Saskia trennte sich nach ungefähr zwei Jahren von ihrem Maler. In einem Café fragte sie mich, was ich von ihm gehalten habe. Ich sagte ihr, dass ich das nicht wusste, er sei sehr schweigsam gewesen und überhaupt hatte ich ihn nur zwei Mal gesehen. Sie glaubte mir nicht. Du hast ihn für einen Idiot gehalten, stimmt’s, fragte sie mich. Nein, sagte ich wahrheitsgemäß. Er ist aber ein Idiot, sagte sie und fing an zu heulen. In dem Moment dachte ich das erste Mal, dass sie vielleicht mit Ronald wieder zusammenkommen sollte. Ich erzählte ihr, dass ich Ronald zufällig auf einer Party getroffen habe. Sie ging nicht groß darauf ein. Sie war äußerst verärgert, zwei Jahre an einen Idioten verschwendet zu haben und kaute an ihren Fingernägeln, die sie sich seit einiger Zeit rot lackierte. Mittlerweile hatte sie Kurse für Webdesign belegt und schon erste Aufträge bekommen. Ihr Bekanntenkreis hatte sich verändert. Es waren Werbe- und Internetmenschen darunter, junge Leute in Anzügen mit überraschend hübschen Freundinnen. Da war eine ganze Generation, die jetzt ihre Nase in den Wind hielt und ihre Chance für gekommen sah. Da waren alle möglichen Leute, von Koksern über Lebensstylisten bis hin zu streberhaften Normalos. Saskia blieb aber sie selbst, ging weiter auf Ausstellungen und in Museen, sie wollte nur nicht mehr mit einem Idioten zusammen sein und wollte selbst kein Idiot sein.
Wenig später bekam sie einen festen Job bei einer Werbeagentur und verdiente endlich ordentlich Geld. Ihre kleine Wohnung in der Oranienburgerstraße behielt sie aber, selbst als das ganze Haus aufwändig saniert wurde und der Hof manchmal von morgens bis abends von dem Lärm widerhallte. Sie mochte die Gegend, es war ganz nahe bei der Synagoge, nicht weit vom Tacheles, direkt um die Ecke der Auguststraße, wo es die ganzen Galerien gab. Es war lebendig, doch noch längst nicht so touristisch wie es heute ist, und es war dennoch überraschend ruhig, zumindest wenn nicht gerade die Schleifmaschinen über den Hof jaulten. In der Zeit schlief sie öfter bei mir, wenn sie aus dem Dreck und Gestank mal raus wollte. Dann brachte sie ihr kleines Apple-Laptop mit und schrieb ihr Diplomarbeit bei mir auf der Couch, während ich fernsah. Zwischen uns lief aber nichts, ich fühlte mich immer zu alt für sie, der Abstand zwischen uns sollte nie schrumpfen.
Der Zufall wollte es, dass sie niemals Ronald traf, obwohl der zumindest ab und an in ähnlichen Kreisen verkehrte. Ronald aber war überhaupt flüchtig, ein Mann der Viele kannte und den Wenige kannten. Er hatte immer etwas andere Ideen als die anderen, seine Projekte waren kurzfristiger angelegt und immer brach er eine Sache ab, bevor sie sich richtig festfahren konnte. Affären hatte er viele und ich lernte in drei Jahren drei Frauen kennen, die mit ihm etwas gehabt hatten. Ihn selbst aber traf ich nicht. Diese Frauen erzählten mir alle dasselbe, redeten davon, dass sich Ronald nie festlegen wollte, Angst vor Verantwortung hatte und behauptete, nicht an die Liebe zu glauben.
Als der Internetboom losging, kam auch Ronald nicht daran vorbei, richtig reich zu werden. Zumindest so reich, dass er sich eine Eigentumswohnung in Prenzlauerberg kaufen konnte. Ich selbst war zu blöd, um mir Aktien zu kaufen, aber selbst Saskia hatte eines Tages plötzlich 30 000 DM auf ihrem Konto, durch Wertpapiere, die ihr ihre Firma spendiert hatte.
 
Der Wohlstand machte Saskia ein bisschen lockerer. Sie lernte einen neuen Freund kennen, der total okay war. Findest du ihn okay, fragte sie mich und ich fand ihn okay. Allerdings besaß er so gar nichts Anziehendes und es gruselte mich immer etwas, wenn Saskia sich stolz an seine breite Brust schmiegte. Die Gründe hierfür waren rätselhaft, denn er sah gut aus und seine Stimme war Gänsehaut erzeugend zumindest für Frauen. Dennoch hätte ich den Maler vorgezogen. Die Beiden waren drei Jahre zusammen und die ganze Zeit sprach sie davon, mit ihm zusammenziehen. Ich redete es ihr nicht aus, aber ich riet es ihr auch nicht. Ich spürte, dass sie es sowieso nicht tun wollte. Sie hing zu sehr an ihrer kleinen Wohnung in der Oranienburger.
Saskia wechselte auch den Job und ging zu einer Firma, wo sie deutlich mehr Geld verdiente. Aber sie machte es nicht wegen des Geldes, sonder wegen der Herausforderung. Ich meldete meine Zweifel an, denn diese Firma lebte ausschließlich vom Internet, während ihr alter Arbeitgeber wenigstens zum Teil noch auf konventionelle Werbung gebaut hatte. Sie lächelte mich an und sagte, ich sei eben doch eine andere Generation. Das machte mich wütend und ich überlegte das erste Mal, ob sie nicht anfing, mir auf den Geist zu gehen. Sie aber lobte unsere Freundschaft anderen gegenüber über den grünen Klee und versuchte manchmal sogar aus Jux, ihren Freund eifersüchtig auf mich zu machen, was der aber nur mit einem süffisanten Grinsen quittierte.
 
Dann passierte eines Tages etwas Eigenartiges. Ronald rief mich an. Meine Telefonnummer war all die Jahre gleich geblieben, die Leute um mich herum wechselten ihre Adressen, stellten auf ISDN um, bei mir aber veränderte sich nie etwas. Ronalds Stimme klang sehr erschöpft am Telefon. Er lud mich in sein Reihenhaus in Berlin-Tempelhof ein. Als er die Tür öffnete, sah mich immer noch der gut aussehende junge Mann von damals an. Er war geradezu aufreizend normal gekleidet, ordentlich, drogenfrei, weich gebettet. Nur seine Augen wirkten müde und seine dunklen Locken widerborstig. Ronalds Frau hatte darauf bestanden, das Reihenhaus zu mieten und die Eigentumswohnung unterzuvermieten, weil diese zu klein sei für sie beide und das Kind. Außerdem wollte sie Abstand zu Ronalds unsteter Vergangenheit herstellen. Sie war Juristin, am Jugendgericht tätig. Ronald zeigte mir ein Foto von ihr und dem kleinen Sohn. Sie sah nett aus, nichts Besonderes, hatte aber etwas Warmherziges im Blick. Sie waren für eine Woche weggefahren, einfach so, es gab keinen Streit. Ronald aber brauchte meinen Rat. Er war höchst depressiv, hatte massive Schlafstörungen. Fühlte sich verfolgt. Fuhr morgens zur Arbeit, aber es gab nicht viel zu tun, der Laden lief auch ohne ihn. Er freute sich auf zuhause, fuhr er aber von der A 100 auf den Tempelhofer Damm, überfiel ihn plötzlich Panik, etwas drückte auf die Brust und sein Magen rebellierte.
Er erzählte mir, dass er Einiges versucht hatte. Er ging immer noch einmal die Woche zu Prostituierten, seine Frau war einverstanden. Zweimal die Woche hatten sie eine Babysitterin, einen Tag der Woche unternahm jeder etwas für sich, den anderen Abend verbrachten sie gemeinsam. Ihm nützte das nichts. Ich hatte eine dumme Idee. Ich fragte ihn, ob er noch wisse, dass er mal gesagt habe, dass er vielleicht Platten auflegen wolle. Er lachte nur und sagt, so ein Quatsch. Er sei seit zwei Jahren in keinem Club mehr gewesen. Er war noch längst nicht dreißig, ich fand es merkwürdig.
Ich riet ihm zu einer Therapie, Verhaltenstherapie. Du wirst auch Medikamente bekommen, sagte ich, aber du brauchst keine Angst haben, du bleibst du selbst. Echt?, fragte er, na schöne Scheiße! Er lachte laut, aber nur kurz.
Bald danach ging die Internetsache den Berg hinunter. Saskias Firma hatte Glück, sie ging nicht Konkurs. Aber sie warfen 60 Prozent der Angestellten raus. Sie konnten nur noch einen Grafiker halten. Sie entschieden sich für Saskias Kollegen, wer weiß warum. Ich war mir sicher, dass Saskia besser war als der Typ, aber vielleicht war ich auch eitel, denn ich hatte ihr damals geraten, Grafik zu machen und wollte Recht behalten. Saskia verlor auch ihre Aktien, sie war zu langsam, um etwas zu retten. In kürzester Zeit war sie wieder auf Null, denn auch ihr Freund verließ sie. Ich fand das logisch.
Ich lud sie zu einem Trostessen bei mir zuhause ein. Sie überquerte als Häufchen Elend die Schwelle. Ich hatte ohne besonderen Grund die B 52‘s aufgelegt, aber sie bat mich als Erstes, die Musik auszumachen, sie hasste die B 52‘s. So erfuhr ich, dass sie und Ronald bei dieser Musik zusammengekommen waren.
Saskia hatte ein abgeschlossenes Studium, sie besaß Berufserfahrung, sie war sogar talentiert, dennoch stand sie nun vor dem Nichts, von ihrer kleinen Wohnung in der Oranienburger einmal abgesehen. Diese Wohnung würde sie auf absehbare Zeit halten können. Sie war vor dem Sanierungswahn und der Mietenexplosion dort eingezogen und lebte dort trotz der durch die Modernisierung unvermeidlichen Mieterhöhung vergleichsweise lächerlich billig. Zudem war im Vorderhaus eine Table Dance Bar eingezogen, wegen der sie erfolgreich eine Mietminderung von 20 Prozent durchsetzte. Ging man sie nun abends besuchen, musste man linker Hand an einem bulligen Türsteher vorbei, der die Bar bewachte und Kunden zu kobern versuchte. Im nach wie vor ruhigen Hinterhof konnte man nun ab und zu beobachten, wie Prostituierte zu ihren Gemächern stöckelten, die Kunden im Schlepptau. Das ist auch insofern interessant, als Ronald nach wie vor die Nutten in der Gegend aufsuchte und es daher ziemlich wahrscheinlich ist, dass er einige Male Besucher von Saskias Hinterhof war, nicht ahnend, dass diese da wohnte und von ihr wiederum unbemerkt.
 
Jetzt war ich es, der den Kontakt zu Saskia zu halten versuchte, weil ich mich für sie verantwortlich fühlte. Dennoch kam eines Tages ihre Mitteilung für mich überraschend, sie sei schwanger. Von wem wollte sie nicht sagen. Sie brachte eine gesunde Tochter zur Welt und lebte ab da von Vater Staat und einigen freien Aufträgen, die sie an Amt und Steuer vorbei durchführte. So konnte sie in ihrer billigen Wohnung sehr komfortabel leben, mit jeder Menge Zeit für ihr kleines Mädchen. Sorge bereitete ihr lediglich, dass ihre Tochter in einer solchen Umgebung aufwachsen musste, so wie die allgemeine Tatsache, dass es so auf Dauer nicht weitergehen könnte.
Den 11.9. 2001 hätte Saskia fast nicht mitbekommen, denn sie war jemand, der zu meiner Bewunderung fast nie fernsah. Erst durch meinen Anruf am Abend bekam sie alles mit. Ich eilte dann zu ihr und wir heulten gemeinsam ein paar Stunden auf der Couch, als ihre Tochter schon schlief. Ich hielt sie ein bisschen im Arm und wurde schmerzhaft an jenen Abend erinnert, als sie mir auf dem Campingplatz in Italien dicht neben mir sitzend ihre Zeichnungen zeigte. Sie roch immer noch genauso.
Ronald wurde an dem Tag morgens von einem Freund in seiner Eigentumswohnung angerufen. Schalt mal den Fernseher an, sagte dieser Freund. Welches Programm?, fragte Ronald. Egal, antwortete der Freund.
Ronald heulte an dem Tag nicht, aber er kam für 10 Stunden nicht vom Fernseher los, wobei er sowieso jemand ist, der viel fernsieht. Irgendwann rief in seine Ex-Frau aus Tempelhof an, aber er ging nicht an den Apparat. Vielleicht ging er abends noch in die Oranienburgerstraße zu den Prostituierten, vielleicht war er uns an dem Abend noch ganz nah, das hat er mir nicht erzählt.
 
Nach dem Börsencrash war Ronald nicht mehr so reich wie vorher, aber er war auch nicht arm. Im Endeffekt besaß er wieder ungefähr 120 Tausend DM, die nun 60 Tausend Euro waren und seine Eigentumswohnung. Der Unterhalt für seinen Sohn fiel eher gering aus, da seine Frau sogar mehr verdiente als er. Kurz bevor er und Saskia sich zufällig in der Tucholskystraße trafen, lief ich ihm im Prenz’lberg über den Weg, wo wir einen Kaffee trinken gingen. Er hatte es nicht geschafft, sein Leben total zu versauen, sagte er mit Sarkasmus. Er nahm keine Drogen, war nicht verschuldet, er befand sich noch nicht mal im Clinch mit seiner Ex-Frau. Seinen Sohn sah er allerdings selten, seine Frau bestand auf einer ziemlich restriktiven Besuchsregelung. Ihm war das Recht. Er hatte eine Weile Therapie gemacht, eine Weile Anti-Depressiva geschluckt und war dann aus Tempelhof wieder weggezogen, hatte dem Mieter seiner Wohnung wegen Eigenbedarf gekündigt. Er fühlte sich nun zum Großteil leer, aber nicht schlecht. Er glaube schon, Verantwortung übernehmen zu können und auch zu wollen, aber das Leben in Tempelhof sei einfach nichts für ihn gewesen. Zum Abschied gaben wir uns die Hand und ich sagte ihm, dass ich hoffte, ihn nun vielleicht regelmäßiger zu sehen. Er antwortete, dass ihn das ebenfalls freuen würde.
 
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