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Wurzeln

wirrlicht

New Member
Registriert
26. Juni 2003
Beiträge
968
Hallo Ihr zusammen,

einige von Euch wissen ja, daß ich seit ungefähr 2 1/2 Monaten in Dresden lebe. Aus wunderbarem Anlaß übrigens, der Zusammenzug mit dem Menschen, dem ich meine Zuneigung und Vertrauen entgegenbringe war gut überlegt und herbeigesehnt.

Nu hock ich hier und komm nicht richtig an. Das bringt mich natürlich zum Nachdenken - nicht so sehr über mein eigenes Gefühl des "In-der-Fremde-Gestrandet-Seins", sondern darüber, wann wir uns "verwurzelt" fühlen.

"Zu Hause ist da, wo ich liebe" - hach, so tolle Sätze hab' ich immer glatt geglaubt. Mehr noch: ich hatte nie das Gefühl, irgendwo meine "Wurzeln" zu haben, dachte ja daß man die irgendwie aus der Familie oder der Herkunft bezieht. Tja also: da stimmt was nicht! Momentan lokalisiere ich "meine Wurzeln" dort, wo ich grad nicht bin: in München. Nicht bei irgendwelchen Freunden (die sind alle woanders), sondern: in der Muffigkeit der Leute dort. Ich vermisse die typisch Münchner Arroganz. Diesen Mischmasch an Life-Style und Dorfromantik. Die U-Bahnen. Das Gefühl, auch ohne Orientierungssinn zu wissen: gleich links hinter mir ist der Stachus. Ich vermisse das Wissen, daß es ziemlich wurscht ist, in welches Verkehrsmittel ich einsteige, weil alle irgendwann im Zentrum der Stadt ankommen. Ich vermisse sogar die bescheuerte Firma, die inzwischen nur noch in den Unterlagen von Insolvenzverwaltern existiert. Ich vermisse das unartikulierte Knurren, das nur von Bayern als Sprache identifiziert werden kann.

Lauter kleine Würzelchen, die jetzt lose in einer fremden Umgebung herumhängen und nicht wissen, an welcher Stelle sie sich einbuddeln können.

Hier ist also ein liebevoller Mensch, mein neues "Zuhause", lauter nette Leute drumrum (Grusel!), eine Zukunft, auf die ich mich gefreut habe: aber "Wurzeln" finde ich hier nicht. :(

Also: was versteht Ihr darunter, wenn von Euren "Wurzeln" die Rede ist? Habt Ihr welche?

Momentan ziemlich erschöpfte Grüße,
wirrlicht
 
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Liebe Franja! (Wirrlicht)

Du schreibst über etwas, das ich aus meinem Leben kenne - unter dem ich heute noch leide ( wirklich - nicht als Phrase).

Ohne allzuviel auf Biographisches eingehen zu wollen,: ich habe seit früher Kindheit - als gut Fünfjährige: die1. als gerade 19 Jährige die 2, als knapp 40 Jährige die 3. und mit 58 Jahren die bis jetzt letzte Trennung von " meinem Gewohnten" erlebt.

Bis auf die erste Trennung aus dem Kultur - und Sprachraum meiner Eltern, dem vertrauten Klang der frühen Kindheitssprache waren alle Trennungen ganz so, wie Du Deine beschreibst: immer freiwillige und in liebevoller Partnerschaft im familiären Raum.


Und doch- und doch......

Ich will nicht Deine Erfahrungen wiederholen, ich könnte es auch nicht in Deinem unverwechselbaren Stil der Wachheit, Lebhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Doch - aufrichtig möchte ich mich auch mitteilen. Aber ich müsste Gleiches berichten.

Oberschlesisch sprechend - rollendes R - langezogener Ton ohne Rundungen ( i statt ü die Riebe statt der Rübe usw) kam ich 1945 in eine 58Schüler starke Klasse mit doch überwiegend Berliner Jören, die sich halb tot lachten über meine Sprache. Mein Glück war, dass es auch noch Flüchtlingsmädchen aus Pommern, Niederschlesien und allen anderen Gebieten , aus denen Deutsche flohen: ich war nicht das alleinige "Opfer".
Außerdem lernt man in der Kindheit schnell.

Nach meiner Heirat wurde ich mit demselben Erlebnis - mir noch vertraut- konfrontiert. Bis heute.
Ich kann und will auch nicht eine Mundart benutzen, in der ich jeden meiner lautlichen Fehler höre, was mich schmerzt.
Aber, wenn Du anders spricht, stellst Du Dich "raus".Dieses Gefühl des Draußenseins erlebe ich im Alltag. Bsp: ich werde noch heute egal wo, in Wien, Oberösterreich und Tirol freundlich gefragt, ob es mir hier gefalle.
Wenn ich mit meinem Manne rede, horchen immer einige auf ( im Zug, im Geschäft, im Wohnmobilklub usw) und die ganz Mutigen merken an ( auch nicht, um mich zu verletzen), dass es doch sehr lustig sei, dass in einer Familie zwei Dialekte gesprochen werden. Sogar im Urlaub die Fremdenführer reden lieber mit mir, weil sie eben " nach der Schreibe" deutsch sprechen lernten.
Ich spreche nicht von Beispielen, in denen ich absichtlich als "Piefke" diffamiert wurde. Diese Liste wäre zu lang und zu schmerzlich.
Das ist neben dem, was auch Du als Wurzel bezeichnest, mein Hauptproblem. Es wird es bleiben.
Als ich ungefähr so alt war wie Du, habe ich mal einer Freundin ein Gedicht geschrieben, weil ich damals noch nicht so darüber reden konnte.
Alle meine Lebensbewältigungsgedichte habe ich in den Orkus geschmissen, dieses aber werde ich mir merken.


Icke, dette kieke ma-
Oojen, Fleesch un Beene!
Na,a mei Kind, so haast des net.
A(o)gen, Flaisch und Baner.

Bein, Beine - ich bin alleine
Baner, Baan - i bin allaan.


Diese sprachliche Absonderung bewirkte auch vieles in meinem Leben; positiv Empfundenes ebenfalls.


Ich kann Dir nichts sagen, was in Richtung Trost oder Zuspruch geht geht, außer Dir eine meiner Grunderfahrungen mitzuteilen: jeder Mensch ist in der Fremde, manche merken es nicht.
Vielleicht sind bei ihnen die Wurzeln so stark, dass sie die Sicht auf sich selbst aus einer gewissen Distanz heraus verstellen? Ich weiß es nicht!

Übrigens: Die Beliner sind prima Leute, die merken es nicht einmal, wenn einer anders spricht, sie reden lieber selbst, wie Du es schon bei mir gemerkt hast:D :D .

Marianne
 
Ich kann nur darüber reden, wie es ist, keine Wurzeln zu besitzen.
Eigentlich sind mir bodenständige Menschen symphatisch. Vieles spricht dafür, im Vertrauten zu bleiben. Neben der Schonung von Ressourcen, einem positiven Konservativismus klingt in der Bodenständigkeit auch Bescheidenheit an.
Ich konnte dem jedoch nicht folgen, weil der mir angestammte Boden eng und unangenehm war. Ich war nie ganz zufrieden mit der Entscheidung weg zu gehen, aber entwurzelt war ich schon, bevor ich ging.
Ich bin nun vor ein paar Monaten umgezogen, wenn auch nicht weit weg. Jetzt überlege ich: Bin ich ein Berliner? Der ich ja nie war, denn ich stamme aus Süddeutschland. Wie kann ich mich fragen, ob ich ein Berliner bin, wenn ich noch nicht mal wusste, ob ich ein Süddeutscher bin?
Ein Mensch treibt viele Wurzeln, manche mehr und stärker, manche weniger und schwache. Die stärksten Wurzeln liegen dort, wo man die intensivste Entwicklung zu sich selbt gemacht hat.
Deswegen kommen mir mehr solche Gedanken, obwohl ich jeden Tag nach Berlin fahre und obwohl ich in Berlin weniger lang gelebt habe, als in Süddeutschland.
Die Menschen, die in meiner "Heimat" geblieben sind, beneide ich nicht. Ich weiß ja gar nicht, wer die sind! Ich weiß nur, dass sie früher und stärker - und stärker in eine Richtung Wurzeln getrieben haben. Das hat sie gefestigt, aber auch starr gemacht. Sollten sie unglücklich sein, haben sie weniger Chancen, sollten sie glücklich sein, sind sie sicherer.
Jetzt wohne ich erst sehr kurz in Potsdam, aber wenn ich an meiner Entscheidung zweifle, finde ich Trost darin, dass ich beweglich bin. Ich habe es mir genug bewiesen - Zeit, sich weniger Sorgen zu machen.
Vielleicht tröstet dich, wirrlicht, zu wissen, dass du beweglich bist. Und wirklich gereift ist man, wenn man, ohne seinen Stolz einzubüßen, auch einmal zurückkehren kann, an einen vertrauten Ort.
 
Original geschrieben von wirrlicht
Ich vermisse das unartikulierte Knurren, das nur von Bayern als Sprache identifiziert werden kann.

Hey Wirrlicht,

dass du diesen knuffigsüßen Dialekt vermisst, das kann ich dir nachfühlen. Den vermiss ich sogar als Wienerin.

Mei, wos is des bayrisch guat.... sauguat!


Ich vermute mal, das wird nie ganz weggehen Wirrlicht.


Drück dich
Whitney
 
Original geschrieben von majanna
Übrigens: Die Beliner sind prima Leute, die merken es nicht einmal, wenn einer anders spricht, sie reden lieber selbst, wie Du es schon bei mir gemerkt hast:D :D .


:D :D :D Da sind meine Erfahrungen aber ganz andere! Ich erinnere mich an einen verschneiten Winter anno 1989 in Berlin - moi war bei Freunden zu Besuch und meine Brille war kaputt gegangen. Katastrophal für 'nen Blindfisch wie mich, in der weißen Schneestadt traute ich mich nur tastend die zwei Straßen zum Optiker. Den Rückweg fand ich nicht mehr (hatte ich schon erwähnt, daß ich keinen Orientierungssinn habe? :p ) - wie auch immer, ich fragte eine mütterlich wirkende Frau nach dem Weg. Ich spreche nicht besonders bayerisch, ehrlich nicht! Aber die Gute erkannte sofort, aus welcher Ecke es mich nach Berlin geweht hatte - was soll ich sagen: 15 Minuten später fand ich mich vor der richtigen Haustüre wieder, umgeben von 5 mir wildfremden, schnell sprechenden Baaaaalinan, wa?! - in einer Hand ein Glas selbstgemachte Marmelade, in der anderen ein Glas ebenfalls selbstgemachte Majonnaise.... im Ohr viele gute Wünsche und Vorschläge, was ich mir alles in Berlin "unbedingt" noch anschauen müsse - und dann war der Spuk vorbei.

Hach Marianne, es tut, verstanden zu werden! Du hast's richtig erfaßt, dieses "wurzelige Gefühl" geht direkt über's Gehör :)


Original geschrieben von RobinDie stärksten Wurzeln liegen dort, wo man die intensivste Entwicklung zu sich selbt gemacht hat.

Kluger Mensch! Das isses, deshalb fühlt sich München für mich so "daheim" an. Wie Du hatte ich nie Wurzeln, bin von klein auf ständigen Orts-/Schul- und sonstigen Wechseln unterworfen gewesen. Man gewöhnt sich, und wenn mich bis vor ca. 1 Jahr jemand gefragt hat, woher ich komme (mein "Dialekt" ist nicht einzuordnen, weil mein Hochdeutsch sicherlich 4 - 5 verschiedene Dialekte in kleinen Dosierungen enthält) dann habe ich immer geantwortet: "Ich bin irgendwann auf die Erde geplumpst und da war ich!"

Jetzt kann ich sagen: Ich komme von München!

Da bin ich zu mir geworden. Ein Gewinn, oder? Ich komme jetzt von wo :)


@Whitney: wenn's nicht gar so albern wäre, würde ich gerne einen Text hier reinkopieren, der die bayerische Seele so richtig schön beschreibt... wer weiß, vielleicht mache ich das sogar im Rätselforum A - Z (wie heißt das noch gleich?). Vielleicht ist es ganz gut, daß das nie aufhören wird, das Vermissen - immerhin zeigt das doch eine Verbundenheit.

Schönes Wochenende wünsch ich Euch :) wirrlicht
 
Ich weiß nicht,

über Wurzeln habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.

Ich lebe schon immer in meiner Stadt, und es ist gut so. Im Urlaub bin ich immer lieber fortgefahren, als wieder zurück zu kommen. Heimweh hatte ich nie, aber was ich in fernen Ländern am meisten vermisste, waren unser hervorragendes Trinkwasser und die kühlen Mischwälder im Sommer.

Was wird sein, wenn ich einmal in einem Land Urlaub mache, das auch gutes Wasser und schöne Wälder hat? Wird sich dann die Frage nach den Wurzeln stellen? Oder werde ich meiner Stadt untreu?

Konfuzi
 
Hallo,

Die Frage: "wo sind meien Wurzeln, wo bin ich zuhause?", beschäftigt mich gerade auch sehr.
Eigentlich habe ich gedacht, für mich ist nur wichtig, wo meine Frau ist, und mein Sohn, da bin ich daheim.
Aber das stimmt nicht (oder nicht ganz).
Ich bin in Oberbayern aufgewachsen. Grob gesagt ertrecken sich meine Wurzeln vom Münchner Süden bis nach Salzburg, immer so etwa entlang der Autobahn A8.
Die Arbeit hat mich nach Saalfelden im Pinzgau (Österreich) geführt. Ich werde da recht nett aufgenommen, aber richtig wohl fühle ich mich nicht.
Jetzt habe ich ein Jobangebot in Salzburg, - und da fühle ich mich durchaus noch zuhause.
Ich hab auch lange geglaubt, überall wohnen zu können.-Aber wenn man dann erst ´mal weg ist... plötzlich sieht alles ganz anders aus.
 
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...wurzeln sind dort vorhanden, wo wir noch krampfhaft an etwas festhalten und dadurch behindert werden, sich für das neue zu öffnen. wurzeln sind eine geschichte der vergangenheit, an denen man sich nur an die guten und nicht an die schlechten erinnern will und daher auch eine art sehnsucht entwickelt, die ein aufzufressen scheint. vergangenheit ist unwiederbringlich und sollte als eine positive erfahrungs- u. wissenbereichung gesehen werden. das was zählt ist das JETZT und HIER!!!

Denn Jetzt und hier - liebes wirrlicht - sitzt du in einer anderen stadt und hast keinen nutzen davon, dich an alte sachen festzukrallen und in sehnsucht und selbstvorwürfen dein leben mies zu machen. du hast die wahl, was du nun draus machst. denn der pc, an dem du deine worte schreibst, ist kein anderer, wie den, den du in deiner geliebten stadt bedient hast. geh raus und sei offen für neues, die ersten positiven erlebnissse werden dein denken schnell ändern, wenn du sie siehst und annimmst

viele grüße und alles gute
lacu
 
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