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Wie ein Flöckchen. Nachruf.

Harka

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31. August 2005
Beiträge
93
Gestern habe ich mein Flöckchen - die kleine zarte weiße Ratte - nach halbjähriger erfolgloser Dauerbehandlung einschläfern lassen. Das Flöckchen hatte ich aus dem Tierheim, wo es aus schlechter Haltung, und bereits lungenkrank, abgegeben wurde. Das Tier war sehr still und schüchtern, hat seit jeher sich immer nur versteckt gehalten und in der Ecke hockend schwer geatmet.

Die Tierärztin war mittlerweile mit ihrem Latein auch am Ende und hilflos. Ich war gerührt, wie sie herumgedruckst hat und wie schwer es ihr selbst viel. Nach der finalene Spritze haben wir beide das kleine Flöckchen gestreichelt, bis es eingeschlafen war, und beide hatten wir feuchte Augen und haben uns versucht zu beherrschen und "professionell" zu wirken.
Dem ewig kranken kleinen Rattenmädchen, dem das kurze Leben nicht nicht viel Gutes bereitet hat, und das ich - Schicksal spielend - gestern zur Regenbogenbrücke getragen habe. Während ich mit dem Auto heimfuhr, enstand in meiner melancholischen Stimmung das Gedicht.




Wie ein Flöckchen auf grauer Erde

Dem Stil seines Lebens selbst treu im Sterben: gelassen
leise verharrend vergehen lassen
Leid und Leben.

Nicht erhebend die Stimme zur Klage
blieb es stumm; auch am letzten Tage.
Anklage und Vergeben
im letzten Atemhauch
zu lesen;
Spürt Schicksals stolze Hand,
unmerklich zitternd auch,
große Weisheit in einem kleinen Wesen.
 
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Der Titel ist ein Vergleich - wie - , also deutet schon an, dass der Leser die Gedichtverse - freier Rhythmus - übertragen lesen soll.
Und da der "plot" dieses kurzen Gedichtes - ein Sterben in großer Kenntnis des Leides und in Gelassenheit - schon auf Inhaltsaspekte der Sinnfindung hinweist, erlaube ich mir, dieser Erstinformation nachzugehen.

Formal ist das Gedicht ein Dinggedicht. Ein Beobachter von außen erzählt über das Sterben eines kleinen Wesens. Und alle - vom Beobachter gebrauchten - Reflexionen zielen auf die letzte Aussage :

große Weisheit in einem kleinen Wesen.

Wie gestaltet der Autor nun diese Aussage - angesichts des beobachteten Todes?

Das kleine Wesen starb, wie es gelebt hatte: alles erduldend, nicht klagend, stumm.

Und die allgemeine Frage, die sich der Leser stellt - angesichts des Todes ist die:

Ist es das Schicksal, das uns Kleine ergeben macht?

Braucht jeder von uns erst seinen eigenen Tod ( Rilke: Malte Laurids Brigge), um aus dieser "Kleinheit" aufzusteigen ?

Ist erst der Tod das Leben? Können wir erst, nachdem es uns als Subjekt bewusst geworden ist, dass erst die Aufgabe des Anspruches auf Selbstverwirklichung uns bereit macht, uns in anderen zu finden?
Das Flöckchen auf der grauen Erde ist nicht zwecklos - es ordnet sich wieder ein in den Kreislauf der Natur. Wenn der Mensch bereit ist, als Flöckchen zu sterben, kann er als Teil des Feuchtigkeit Boden fruchtbar halten.


Du siehst, harka, dass ich weitab von dem autobiograpischen Hintergrund interpretiert habe.
Aber - das ist es ja gerade, was ein Gelegenheitsgedicht von Poesie unterscheidet. Deutungen sind auch für den unbefangenen Leser möglich.

Marianne
 
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