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Die Meisterin der Trance...

Pottwal

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4. Juni 2008
Beiträge
56
...oder wie eine Pflasterbrille entsteht.
Arschloch!



Ei jeijei, ei, Ei jeijei,ei, Ei jeijei, ei, Ei jeijei, ei, Ei jeijei, ei, Ei jeijei, ei, Ei jeijei, mit dem Kopf vor- und zurückschaukelnd zwirbelt sie dabei ein Pflaster um einen kaputten Sonnenbrillenbügel, tastend, schaukelnd, singend, Ei jeijei, ei, Ei jeijei, ei, Ei jeijei.
Über dem rechten Auge eine durchsichtige Plastik- Piratenklappe, wegen der Operation vor ein paar Tagen. Sie ist so gut wie blind. Grauer Star.
Aber das scheint sie nicht sonderlich zu interessieren. Interessant dagegen sind die Pflaster und fasziniert schaue ich zu, wie sie immer wieder Pflaster zwirbelt, um die Brille, um die Finger, aufeinandergeklebt, wieder auseinandergerissen, hundertmal zwischen den Fingern gerollt und betastet.
Auf dem Kopf zwischen ihren schwarzen kurzen Haaren kahle Stellen, an den Füßen alte Turnschuhe, einer mit rosarotem Schuhband, einer mit schwarzem Schuhband, eine Hose, die mit einem braunen Ledergürtel am schmalen Körper gehalten wird.
Aus dem Radio ertönt ein Lied von "DÖF" : Da da da- aha aha aha- woraufhin sie schrill mit "Nein, nein nein!!! " antwortet. Ihre Stimme ist immer etwas schrill. Ich lache.
Gini ist ein Unikat.
Zwirbel, zwirbel, zwirbel, schaukel, schaukel, Kopf schräg, dann sagt sie todernst: "Brauchst a Watsch`n?"
Ich antworte: "Nein Gini, heute nicht mehr- vielleicht morgen." Sie nickt, lächelt, zwirbel, zwirbel, schaukel, schaukel, schaukel, eine kurze Bewegung um sich die klebrigen Finger an der Hose abzuwischen, zwirbel, zwirbel, schaukel, schaukel, mit der anderen Hand kurz getastet, ob die Zuckerbeutel noch in der kleinen Seitentasche des Fischerhutes auf ihrem Kopf sind.
Ja, sie sind noch da; Zucker ist wichtig.
Schaukel, schaukel, zwirbel, wisch, tastend nach der ungewohnten Augenklappe- akzeptiert.
Zwirbel, zwirbel, schaukel, schaukel, schaukel, Ei jeijei, ei, Ei jeijei, ei, Ei jeijei, ..... zur Entspannung.
Dann ein Griff nach hinten in die Hosentasche. Die neue Sonnenbrille von gestern sieht heute aus wie... naja, wie eine kaputte Sonnenbrille. Die Gläser sind irgendwo in ihren Taschen verschwunden, die Bügel mit Pflastern angeklebt.
Tastend stellt sie fest: "Sonnebrille kaputt"! Gleichzeitig reisst sie die alten Pflaster runter, klebt sie wieder drauf, schaukel, schaukel, schaukel, schaukel, zwirbel, zwirbel, wisch, sie setzt sich die kaputte Sonnenbrille auf die Nase und dreht den Kopf wieder in meine Richtung. "I hob Di lieb. Wüst a Bussi?" Und schon wischt sie sich den Sabbermund am dreckigen T- Shirt ab und drückt mir einen leichten Kuss auf die Wange. Große Ehre.
Schaukel, schaukel, schaukel, Ei jeijei, ei, Ei jeijei, ei, Ei jeijei, ei, Ei jeijei, zwirbel, zwirbel, zwirbel, ein Griff zum Hut, Zuckerbeutel sind noch da, da fällt ihr ein: "Gini an Kakao hab`n?"
Ich hole ihr Kakao. Tastend greift sie nach dem Becher, stellt fest, daß es keine harte Tasse sondern eine weicher Becher ist, nimmt ihn vorsichtig und leert mit der anderen Hand halb Zucker rein, dann trinkt sie ihn mit einem einzigen großen Schluck aus, wischt sich mit der Hand über den Mund. Schaukel, schaukel. Kakao ist ja noch harmlos. Witzig wird`s für den Zuseher erst, wenn Cornflakes, Joghurt, Kakao und andere Zutaten vermischt werden in einer zu kleinen Schüssel, in der sie dann heftig umrührt, sodaß rundherum am Tisch alles klebt und schwimmt, während sich unter dem Tisch die klebrigen Pflasterreste und Papierfetzen häufen.
Griff nach den Pflastern- sie werden weniger. "Gemma Gini Pflaster kaufen?" fragt sie mich.
"Du hast noch genug, wir kaufen später welche" sage ich.
Schaukel, schaukel- sie denkt nach darüber und nickt mit dem Kopf. Zwirbel, zwirbel- sie greift nach ihrer Sonnenbrille und klebt den zweiten kaputten Bügel mit Pflastern exakt genauso gerade an, wie den Bügel der anderen Seite.
Tastend, schaukelnd, zwirbelnd, klebend baut sie ihre Sonnenbrille zusammen.
"Du bist a Arschloch" sagt sie zu mir.
Ich lächle.
"Bist a brave Gini" sage ich zu ihr und streichle sie am Nacken und auf dem Kopf.
Schaukelnd legt sie ihre Hand auf meinen Kopf und sagt:" Sonja auch duschen?"Gini duschen! Mit Haarshampoo!"
Aus Erfahrung weiß ich, daß es sich dabei nicht nur um einige handvoll Haarshampoo handelt, sondern um eine ganze Flasche davon.
Dann zwirbelt sie ihre Pflaster weiter, während ich ihren Kopf und Nacken streichle, und ihr sage, wie gut sie duftet und wie weich ihre Haare sind vom Haarshampoo und wie hübsch sie aussieht- so frisch geduscht. Eine dreiviertel Stunde geduscht.
Zu zweit.
Mit Schimpfausbrüchen.
Ihr Betreuer war fix und fertig danach.
Schaukel, schaukel, schaukel, schaukel, dann steht sie auf, bleibt bucklig stehen, schaukel, schaukel, schaukel ( das geht auch im Stehen), zwirbel, zwirbel, zwirbel, jemand kommt vorbei und sagt "Hallo Gini!"- sie beachtet ihn kaum und antwortet: "I sog das, Du kriagst so a Watschn!"
Schaukel, schaukel, schaukel, schaukel, schaukel, schaukel, zwirbel, zwirbel, Griff nach dem Zucker im Hut- noch da, alles in Ordnung. Sie setzt sich wieder.
Ihr Betreuer kommt um ihr Pflaster vom Auge zu lösen- wegen den Augentropfen die sie nehmen muß. Das Pflaster klebt ein bisschen an den Augenbrauen.
Gini schreit laut:"Du Arschloch! Drecksau!"
Ich lache. Alle lachen. Sie ist fuchsteufelswild.
Dann lässt sie brav alles über sich ergehen, hilft auch noch mit, das Augenlid runterzuziehen, damit er die Tropfen reingeben kann. Schaukel, schaukel, schaukel, zwirbel, zwirbel, abwischen an der Hose, zwirbel, zwirbel, zwirbel, ei jeijei, Ei, ei jeijei, Ei, ei jeijei, ...
Gini ist glücklich. Ihr Betreuer hat ihr neue Pflaster gekauft und eine edle Spenderin hat ihr eine neue Sonnenbrille geschenkt. Für die liebe Gini.
Einen Tag später geht`s auf zum baden an den Strand. Mit Badeanzug und Fischerhut- am Arm ihres Betreuers wird sie geführt.
Kaum erreichen wir den Strand pinkelt sie auf die Liegewiese ohne mit der Wimper zu zucken. Normalerweise tut sie das nicht, es kommt von der Aufregung, der Umstellung, dem unregelmässigen Tagesablauf.
Na, was soll`s. Wir haben "Narrenfreiheit".
Später unter einem schattigen Baum: Schaukel, schaukel, schaukel, zwirbel, tastend greift sie die neue Sonnenbrille an. Knacks, schon fehlt der erste Bügel.
"Gini Sonnebrille kaputt!"- sie hält mir die angeknackste Brille unter die Nase.
"Naja, sage ich, die kannst ja wieder kleben, oder?"
Lächelnd nickt sie, greift in die Hosentasche und zieht ein neues Pflaster hervor.
Schaukel, schaukel, schaukel, schaukel, schaukel, zwirbel, zwirbel, zwirbel, sie wickelt das Pflaster um die gebrochene Stelle. Zwirbel, zwirbel, schaukel, schaukel, ei jeijei, Ei, ei jeijei, Ei, ei jeijei, Ei, ei jeijei, die neue Sonnenbrille ist wunderbar geklebt und sitzt ganz toll auf ihrer Nase.
Während ich mich umdrehe und gehe höre ich noch wie sie sagt: "Du bist so deppat, wüst a Watschn?"
 
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AW: Die Meisterin der Trance...

Hallo Pottwal,

diese Geschichte hat mich von der ersten bis zur letzten Zeile fasziniert.
Schon der Beginn ist außergewöhnlich und phantasievoll.
Man braucht wohl sehr viel Geduld im Umgang mit dieser alten Frau, bestimmt ist das auch für Dich eine Herausforderung.
Ich bedanke mich ebenfalls, dass Du uns in diese andere Welt einmal mitgenommen hast.

Grüße von FirstDay.
 
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