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Gemeinsame Novembergeschichte

die erde war locker. sie roch feucht und humös.
der derart köstliche geruch des waldbodens machte ihn fast benommen. er befand sich wie in trance. sah sich zu wie er grub und war dennoch in einer anderen welt.
nun spürte er etwas unter seinen fingern. sein herz pochte lauter.
eindeutig, das war das kleine kästchen aus blech. schon konnte er es aus dem boden heben. erdverschmiert führte er es zu seiner nase und roch daran. dabei tat er einen tiefen seufzer.
das mäuslein saß daneben und machte keinen mucks.
alles fiel ihm wieder ein, plötzlich und unvermittelt. und nun merkte er auch, dass ihn ein heftiger weinkrampf schüttelte.
mit zitternden fingern und doch automatisch hob er den deckel der blechdose an. ja, sie waren noch drinnen. ganz unversehrt.....die briefe von damals.
 
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AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Sie waren kreuz und quer mehrfach mit einem großen blauen Seidenband verschnürt, und dieses war noch einmal fest verknotet, so als ob sie ein Signal der Unnahbarkeit geben wollten, das den Entdecker daran hindern sollte, sich ihnen hastig und respektlos zu nähern. Und er dachte darüber nach, warum er diese Briefe damals so sorgfältig und mit viel Mühe, die beinahe einem Verpackungskünstler Ehre gemacht hätte, in der Blechdose verstaut hatte. War es die Furcht, sie könnten in falsche Hände fallen, wenn sie gefunden würden? Aber eigentlich hatte er doch gar nicht damit gerechnet, dass sie jemals entdeckt würden, denn er hatte sein Versteck sehr gut ausgesucht, an einer Stelle, zu der er sich immer flüchtete, wenn er Zeit für sich selbst und seine Gedanken brauchte, da er sich immer sicher sein konnte, dort niemanden anzutreffen. Wer sollte hier jemals seinen gehüteten Schatz finden, den er nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst in Sicherheit bringen wollte, da er so unangenehme Erinnerungen barg? Nie, wirklich niemals hatte er den Wunsch gehabt, sie noch einmal auszugraben, um diese Erinnnerungen wieder ins Leben zu rufen.
Und nun stand er vor diesem Päckchen, das er in einer wunderschönen, mit orientalischen Ornamenten verzierten Blechdose am Fuß der Linde verscharrt hatte, damals als er diese schrecklichen Erlebnisse vergessen wollte.
Warum hatte ihn sein Weg nun wieder hierher geführt? Auf welche Weise wurde hier in sein Schicksal eingegriffen? War das Mäuslein dazu bestimmt, ihn auf einen bestimmten Weg zu führen, den er nicht einschlagen wollte? Sollte hier sein Schicksal eine Wende nehmen?
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Der Maler saß im Gras, neben sich die aufgewühlte Erde, in seinen dreckigen Händen hielt er die verschnürten Briefe, die Dose war ihm aus den Händen gefallen. Das Mäuschen saß darin auf seinen Hinterpfötchen und blickte ihm aufmerksam ins Gesicht.

Er erinnerte sich daran, wie sehr er diesen Baum geliebt hatte, so sehr, dass er ihm sein geheimstes Geheimnis anvertraut hatte. Hier wusste er es gut aufgehoben.

Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf! Der Baum war unsichtbar, weil er ihn in seinem Bild nicht gemalt hatte, obwohl er in Wirklichkeit hier stand. Immer schon. Er hatte ihn aus seinem jetzigen Leben einfach ausgeblendet, als ob es ihn nie gegeben hätte, nur damit er sich nicht erinnern musste. Aber diese kleine Maus hatte ihn hierher geführt und ihm gezeigt, dass es etwas gab, das auch zu seinem Leben gehörte. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte.

Er saß lange da, die Briefe in seiner Hand. Das Mäuschen hatte sich auf sein Knie gesetzt, als ob es ihn durch seine Körperwärme ein wenig trösten könnte.

Er spürte sein wehes Herz, als er die Briefe wieder in die Blechdose legte. Er stellte sie in die flache Grube zurück und schob die Erde langsam wieder darüber. Dabei flossen Tränen über seine Wangen, aber er bemerkte es nicht. Er wischte sie nur ab und zu mit seinem Handrücken ab und verschmierte dabei sein Gesicht mit der Erde, die er an den Händen hatte. Ganz bewusst beerdigte er seinen Schatz, der ihm vor langer Zeit so viel Schmerz bereitet hatte, kniete im Gras vor diesem Grab und weinte.

Die kleine Maus saß neben ihm und beobachtete ihn aufmerksam und ruhig.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
gerade noch wollte auch er dem mäuslein zunicken, da merkte er, dass er gar nicht mehr da war...
irgendetwas hatte sich wieder verändert. alles rund um ihn war dunkel. die luft wirkte als wäre sie nicht vorhanden. keine frische, keine brise, kein hauch.
stumpf war ihm. stumpf und dumpf. abgestanden roch es. alt und grindig.
noch immer konnte er nichts sehen. dann allmählich gewöhnten sich seine augen an die finsternis und da merkte er dass er wieder auf seinem dachboden war.
er lag auf den alten bohlen. zusammengekrümmt.
wie war er da hingekommen? er hatte keine ahnung.
langsam rappelte er seine glieder zusammen. strich sich durch das haar.
wo war das mäuschen? er konnte es in dem dämmerigen zwielicht nicht ausnehmen. hatte er geträumt?
ERNESTINE...
in seinem kopf blinkte dieser name auf.
erst beim runtergehen auf der stiege bemerkte er, dass an seinen händen erde war.
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Ernestine. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild einer jungen Frau.
Lachende, grüne Augen, ein Mund, der etwas zu gross war, eine lange schmale Nase und dunkle Haare, die ungekämmt die hohe Stirn bedeckten.
Nichts in diesem Gesicht schien so richtig zum anderen zu passen, es war keine Harmonie in diesen Zügen und doch war es diese Lebendigkeit, die es unheimlich anziehend und schön wirken liess.
Und er erinnerte sich, wie ihm dieses Gesicht so nahe gewesen war, als er mit Ernestine unter der Linde gelegen hatte. Er erinnerte sich, wie er dieses Gesicht in beiden Händen gehalten hatte, wie er diesen Mund geküsst hatte.
Es war das Gesicht jenes Sommers gewesen.
Dann musste er wieder fort.
Sie begannen sich Briefe zu schreiben. Und am Ende jedes Briefes, den Ernestine ihm schrieb, versicherte sie ihm, wie sehr sie sich auf den nächsten Sommer freue und darauf, ihn wiederzusehen.
Und dann schrieb sie plötzlich nicht mehr.
 
er merkte wie sein puls zu rasen begann. in seinem mund verspürte er einen kloss. seine augen fingen an zu tränen.
er zwang sich zu schlucken. atmete einmal tief durch.
sie hatte nicht mehr geschrieben. er spürte seine verzweiflung.
langsam aber unaufhaltsam stieg sie seinen ganzen körper hoch und hielt ihn fest.
die lebendigkeit, die er einstens verspüren durfte, war dahin. nun war er gefangen im eisernen griff des zweifels.
würde er jemals so lieben können wie damals?
würde er jemals so leben können wie einst?

würde er jemals wieder ruhe finden können? jetzt nachdem er wieder "erwacht" war?
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Ja, sie hatte ihn betrogen damals, davon war er überzeugt gewesen.
Sie hatte sich mit diesem Willi eingelassen, Willi mit seinen Muskeln und seiner grossen Klappe!
Denn als er in jenem Sommer wieder bei seinem Onkel war, nachdem sie ihm während der vergangenen drei Monate keinen einzigen Brief mehr geschrieben hatte, sah er sie zusammen.
Und er sah den Blick, mit dem Ernestine Willi anschaute.
Es war der gleiche Blick, mit dem sie vergangenen Sommer ihn bedacht hatte.
Eine riesige Wut war in ihm hochgekocht, daran erinnerte er sich nun mit Schaudern. Dabei war es ja nicht einmal das Schlimmste, dass sie sich mit einem anderen eingelassen hatte. Er hatte insgeheim sogar damit gerechnet, dass ihre Liebe dieses Jahr nicht überdauern würde. Und Willi stand eben gerade zu Verfügung. Das tat weh, sehr weh sogar, aber es machte ihn nicht wütend.
Was ihn wirklich ausser sich geraten liess, war die Art und Weise, wie ihn Ernestine fallen gelassen hatte. Sie hatte ihn einfach zur Seite gelegt, wie ein Buch, an dem man das Interesse verloren hat.
Und in der folgenden Nacht war Ernestines Haus abgebrannt.
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Schwierig, hier weiterzumachen? Dann versuch ich mal selbst noch ein Stückchen.:)

Zum Glück war kein Mensch dabei zu Schaden gekommen. Alle Bewohner des Hauses konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen.
Später hatte sich dann herausgestellt, dass das Feuer ausgebrochen war, weil jemand vergessen hatte, eine Kerze zu löschen. Erst hatte man an Brandstiftung gedacht, fand aber keine Beweise dafür.
Der Maler hatte sich dennoch schuldig gefühlt. Denn er hatte daran gedacht... In seiner unbändigen Wut hatte er tatsächlich daran gedacht, das Haus, in dem Ernestine wohnte, anzuzünden.
Er hatte sogar davon geträumt.
Und dann hatte er Angst bekommen, dass seine Gefühle vielleicht tatsächlich so stark gewesen waren, dass er jenes Ereignis in irgendeiner Form verursacht hatte. Er wusste zwar nicht wie, aber dennoch merkte er, dass es einen Teil in ihm gab, der sich selbständig machen könnte. Der sich über jede Vernunft hinwegsetzen könnte um etwas so Schreckliches zu tun.
Und das war jener Moment gewesen, in dem er die Liebesbriefe Ernestines genommen hatte, sie in die Schachtel gepackt und vergraben hatte.
Und mit ihnen begrub er dort unter der alten Linde all seine Liebe, seine Enttäuschung, seinen Hass und seine Wut, die ihn so ängstigten.
Und er führte ein Leben, in dem künftig solche Gefühle keinen Platz mehr haben sollten.
Und jetzt sass er da, mit dieser Schachtel, mit diesen Briefen und mit dem Wissen, dass dies alles nun vorbei war, dass er einen Weg finden müsste, diesen Teil, der ihm immer noch so viel Angst machte, anzunehmen und zu gestalten.
Doch was wäre der nächste Schritt dabei?
 
automatisch hatten seine finger das blaue seidenband geöffnet. und ebenso öffneten sie den fein säuberlich gefalteten bogen papieres.

Du allerliebster Franz!
Du weißt ja gar nicht, wie sehr Du mir fehlst - in meinen traurigen langen Tagen.
Stündlich, ja minütlich sehne ich mich nach Dir.
Sag, liebst Du mich denn auch so sehr wie ich Dich?
So schreibe mir - ich warte ungeduldig.

Die Tage sind so lang geworden ohne Deine Gegenwart.
Und in meinem Herzen brennt eine lodernde Flamme.
Geliebter! Schreibe mir!

Von Herzen
Ernestine
er war noch ganz benommen von den worten, von den schwüren... von den gefühlen, die in seinem herzen entfacht wurden.

oh ernestine, wie sehr hast du mir weh getan!
 
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AW: Gemeinsame Novembergeschichte

An diesem Tag las er alle Briefe Ernestines noch einmal.
Anfangs hatte er Mühe, durch den Tränenschleier vor seinen Augen ihre ordentliche, fast ein wenig kleinmädchenhafte Schrift zu entziffern. Aber nach und nach wurde seine Sicht klarer, die Tränen trockneten. Er tauchte ab in Ernestines Worte, in die keinen Alltagsgeschichten, die sie ihm zwischen ihren Liebesbeteuerungen schilderte und irgendwann begann er durch diese Worte hindurch ein neues Bild Ernestines zu sehen, einer Ernestine die auch dann lebendig war, wenn sie ihm nicht schrieb oder an ihn dachte.
Sie hatte ihm so viel von sich geschrieben, aber er hatte es eigentlich nie so genau gelesen. Er wollte immer nur lesen, dass sie ihn liebte und auf ihn wartete. Und es gab diese Briefe, in der es alleine darum ging. Wie den ersten, den er zur Hand genommen hatte.
Aber es gab auch die anderen, in denen sie einfach nur plauderte, ihn aus der Distanz an ihrem Leben teilnehmen liess.
Und unter jedem Brief von Ernestine war die Aufforderung gestanden, er solle ihr doch bald schreiben.
Er hatte ihr geschrieben. Sicher nicht so häufig, wie sie das getan hatte, aber immer wenn er Zeit fand und in der richtigen Stimmung war, hatte er versucht, ihr zu schreiben.
Und zwischen all seiner neuerwachten Traurigkeit fragte er sich plötzlich, wo sie wohl heute war, was sie machte und wie es ihr ging.
 
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