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Thomas Bernhard "Auslöschung"

Nachmittagsphantast

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27. Januar 2006
Beiträge
200
Hallo,

ich bin noch nicht ganz durch (derzeit etwa Seite 350), aber die Wandlung, die der Protagonist während des Buchs bzw. des inneren Monologs durchläuft, ist atemberaubend. Am Anfang denkt man, dass der Autor bzw. das lyrische Ich die Stadt Wolfsegg hasst, dann hasst er die Fotografen, die Jäger, die Menschen an sich, er hat einen Hass auf alles, belegt es mit negativen Zuweisungen wie "abscheulich, widerwärtig, eklig, häßlich, ungeheuerlich". Im Laufe des ersten Kapitels (das Buch hat nur zwei und auch nur zwei Absätze) durchläuft das lyrische Ich eine Wandlung, er nimmt sich selbst wahr, er bemerkt in seinem fortschreitenden Dialog mit Gambetti ("habe ich zu Gambetti gesagt"), dass er zu Übertreibungen neigt, dass es sogar peinlich ist, und dass es unanständig ist, über seine toten Eltern so herzuziehen (auch wenn er zu Beginn glaubt, dass die Redensart "Über Tote soll man nicht schlecht reden") keine Berechtigung hat. Als der Szenenwechsel kommt, also das zweite Kapitel, wo er sich direkt in Wolfsegg befindet und der Trauerzeremonie (heimlich) beiwohnt, ohne sich zunächst erkenntlich zu zeigen, ist er immer noch von negativen Gedanken beseelt, aber auf eine subtile Weise, die Bernhard grandios beherrscht, vermittelt er den Schmerz und die Trauer des Protagonisten über den Tod seiner Eltern und seines Bruders. Letzterer kann nicht mehr heiraten, denn "ein Toter kann nicht heiraten". Das lyrische Ich sagt nicht direkt "ich trauere um meine Eltern und meinen Bruder", aber es ist zwischen den Zeilen und aus der Art, wie sich seine Beschreibungen gegenüber dem ersten Kapitel ändern, ersichtlich. Das alles übt auf mich eine ungeheure Faszination aus, und wie er sich selbst auszulöschen versucht, durchlebe ich selbst als Leser das Gefühl einer Auslöschung, man beginnt sich zu hinterfragen, und obgleich das lyrische Ich übertreibt, denn das Buch ist meisterlich in Übertreibungen, und Bernhard beherrscht Übertreibungen meisterlich, entdeckt man immer wieder einen wahren Kern in ihnen. Bisher gab es noch keine Literatur, die mich so eingenommen hat, die mich in einen derartigen Bann gezogen hat.

Gruß,Felix
 
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AW: Thomas Bernhard "Auslöschung"

Langsam geht es auf das Ende zu. Es ist wirklich nicht leicht, ein Buch (fast) ohne Absätze zu lesen. Ohne Lesezeichen ist man wirklich verloren, aber der Ruf nach Absätzen würde hier der Intention des Autors entgegenstehen. Gedanken sind ja schließlich auch nicht fein säuberlich gegliedert, sondern kommen mehr oder weniger wirr in einer Reihenfolge, deren Beginn man nach einigen Gedankenwindungen, Querschlägern und Rückwärtsdenken nicht mehr zu finden vermag. So kommt Bernhard plötzlich, abrupt, von Kirchenfürst Spadolini zu Goethe. So steht man selbst etwa morgens unter der Dusche und sinniert über die wilden Träume der letzten Nacht und ihrer möglichen Bedeutung für die eigene Zukunft. Im Gefolge des Darübernachdenkens sprießen plötzlich ganz andere Gedanken hervor, die sich etwa konkret mit dem beschäftigen, was man nun vorhat, dabei bauen sich Querverbindungen auf, zu Personen, die man kürzlich getroffen hat oder bald treffen wird, zu möglicherweise peinlichen Erinnerungen, die - so es leider die Natur des Erinnerns ist - in viel hervorstechenderer Form an das Tageslicht zurückkehren als die schönen, glücklichen Momente im Leben. Plötzlich befindet man sich in einem anderen Universum, und vergisst ganz, dass man bereits seit zwanzig Minuten unter der Dusche steht, bis die Gedankenspirale abreißt. Vergeblich versucht man nun eben an den Beginn zurückzukehren, an den Fuß der Spirale, bei Bernhards erstem "Kapitel" beginnt alles mit dem Telegramm vom Tod der Eltern und des Bruders, und das erste Kapitel endet auch mit jenem Telegramm und der Pflicht nach Wolfsegg zurückzukehren. Dazwischen schafft es Bernhard in einer Ulysses-Manier, über sein Verhältnis zu den Verstorbenen, zur Familie, zu seiner Heimat Wolfsegg und zu seinem Schüler Gambetti in einer Art und Weise und vor allem in einer Ausdauer zu sinnieren, dass einem selbst beim Lesen schon schwindlig wird. In gewöhnlichen Romanen, der Trivialliteratur würde die Todesbotschaft zwar mitunter pathetisch verwertet würden, auf ein paar Seiten, aber gewiss sieht man sie nicht auf etwa 350 Seiten verwertet, wie es Bernhard getan hat.
Im zweiten Kapitel des Buchs, mit der Überschrift "Das Testament" nimmt der innere Monolog an Fahrt auf, gewinnt an Tempo, indem er nicht nur die Gedanken des Protagonisten weiter in seiner unbestechlichen Eindrücklichkeit schildert, sondern auch die Handlung hineinbringt, und gerade jene Personen, über die bisher in aller Unmöglichkeit und Infamie sinniert wurde, die regelrecht zerpflückt, ja geradezu ausgelöscht wurden. Seien es der Weinflaschenstöpselfabrikant, die Titiseetante, die Jäger und die Gärtner, aber auch die Nazivergangenheit seiner Eltern, deren Weggefährten es dem Protagonisten schon graut, auch nur die Hand schütteln zu müssen.

Das ist alles, insgesamt, sehr, sehr fein gesponnen. Wie es auf dem Umschlagtext so schön heißt - Bernhards bedingungsloses Geschenk an die Weltliteratur.
 
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AW: Thomas Bernhard "Auslöschung"

hallo, nmp!

das buch klingt ja deiner beschreibung nach sehr spannend und originell. wie viele seiten hat es denn und ist es von der sprache her schwierig zu lesen?
 
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AW: Thomas Bernhard "Auslöschung"

Hi psbvbn1,

das Buch hat 651 Seiten, es ist von der Sprache her relativ leicht zu lesen, zumindest, was die Wörter selbst betrifft, also relativ wenige Fremdwörter, ist auch für einen Nichtösterreicher gut lesbar. Schwieriger ist es, nicht den Faden zu verlieren, da, wie gesagt, nur zwei Absätze vorhanden sind, und der Autor gelegentlich stark abschweift. Dennoch ist die Handlung in meinen Augen gut nachvollziehbar, im zweiten Teil noch besser als im ersten Teil, wo das ganze mehr eine essayistische Form annimmt (es wird sozusagen über Gott und die Welt lamentiert).

Auch sollte man darauf gefasst sein, dass das Buch wortwörtlich eine Auslöschung ist. Es gibt nur wenige Passagen, in dem der Autor positives erwähnt, von positiven Ereignissen schreibt, der Großteil des Buchs ist - meisterlich übertrieben mit Sicherheit - pessimistisch, negativ geschrieben, es wird alles, wirklich alles und beinahe jeder schlecht gemacht, sieht man von seinem Onkel Georg, seinem Schüler Gambetti und seiner Literaturgenossin Maria ab. Wer mit diesem von Bernhard zur Perfektion getriebenen Pessismus nicht zurechtkommt, sollte das Buch erst gar nicht anfangen.

Mich hat nichtsdestotrotz selten so etwas berührt, persönlich bewegt, und das Buch hat es immer wieder geschafft, mich selbst zu reflektieren, und hat mich immer wieder abschweifen lassen, wobei man letzteres auch so auslegen könnte, dass das Buch langweilig ist, aber das war mitnichten der Fall. In diesen Abschweifungen konnte ich in mich gehen, hatte ich die Ruhe gefunden, mich selbst irgendwie auszuleuchten, zu hinterfragen.

Jedenfalls war ich (heute nacht) schon traurig darüber, als ich die letzte Seite aufschlug und niederlas, da ich den Gedankenbildern Bernhards gerne weiter zusehen hätte.

Gruß,Felix
 
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