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Walter Jens zum 85. Geburtstag am 8. März)

Miriam

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9.722
Man nennt ihn oft den letzten großen Intellektuellen der Republik – Walter Jens, der am 8 März seinen 85. Geburtstag feiert.

Vor einigen Tagen, als ich mir vorgenommen hatte über diese große Persönlichkeit zu schreiben, wusste ich nicht genau wie ich dies tun soll. Denn ich wusste seit kurzer Zeit, dass er schon seit einigen Jahren an Demenz erkrankt ist.
Es unerwähnt lassen? Auf eine Würdigung eher verzichten?

Nun hat sein Sohn, der Journalist Tilman Jens am 4. März im FAZ-Feuilleton über die Demenzkrankheit seines Vaters berichtet, eben mit der Absicht ihn nicht totzuschweigen wegen seiner Erkrankung.

http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF4...309C8A59493E94B08D~ATpl~Ecommon~Scontent.html

Seine Frau Inge Jens, mit der ihn nicht nur eine langjährige Ehe verbindet sondern auch eine intensive Mitarbeit, sagt dazu: "Mein Mann ist fast vollständig in seiner eigenen Welt versunken, kann weder lesen noch schreiben noch so sprechen und formulieren, dass man Zusammenhänge verstehen und nachvollziehen könnte. Kommunikation auf der rationalen Ebene ist nicht mehr möglich. Sehr wohl hingegen auf der emotionalen, und in dieser Hinsicht versuchen wir, ihn gut zu versorgen."


Doch er bleibt einer der profiliertesten Intellektuellen Deutschlands, der Rhetorikprofessor und Philologe Walter Jens, der gute Mensch von Tübingen, wie man ihn oft nennt.

Sein Wissen und seine Bildung sind so umfangreich, eine wahre Universalbildung wie sie kaum heute noch anzutreffen ist.
Denn Walter Jens hat sich intensiv mit Fragen der Religion befasst, (z.B. „Theologie und Literatur“, Der Fall Judas, Am Anfang war das Wort: Das Johannes-evangelium, oder Reden wie:"Juden und Christen in Deutschland", etc…) mit philosophischen Themen, mit der altgriechischen Tragödie (Das Testament des Odysseus, Der Untergang: Nach den Troerinnen des Euripides, die Götter sind sterblich – Tagebuch einer Griechenlandreise).
Genau so hat ihn aber auch die Mondlandung beschäftigt – und natürlich eines seiner Lieblingsthemen: der Fußball! Dazu Jens: "ein königliches Spiel mit allen Unberechenbarkeiten des Lebens".

In Zusammenarbeit mit seiner Frau Inge Jens, entstanden die sehr bemerkenswerten Bücher: "Frau Thomas Mann: Das Leben der Katharina Pringsheim" und "Katias Mutter. Das außerordentliche Leben der Hedwig Pringsheim".

Walter Jens ist einer der Mitbegründer der legendären „Gruppe 47“, außerdem war er Präsident des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1982-1989 und Präsident der Akademie der Künste in Berlin (1989-1997).

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Ganz sicher hat Walter Jens die Aufdeckung seiner angeblichen Mitgliedschaft in der NSDAP gesundheitlich geschadet. Denn es scheint ja so zu sein, dass manche junge Leute ohne davon Kenntnis zu haben, als Mitglieder der Nazi-Partei eingetragen bzw. geführt wurden.
Als Jens diese Anschuldigung vernahm, traf es ihn schwer. Er erklärte, dass er sich daran nicht erinnern könnte. Dies wiederum wurde ihm von den Medien als Lüge vorgehalten.

Persönlich glaube ich schon, dass er ohne sein Wissen als Mitglied eingetragen wurde.

Ich habe eine Text von Walter Jens gefunden, den er nie geschrieben hätte, wenn er sich bewusst in die NSDAP eingetragen hätte. Es handelt sich dabei um eine Rede die Jens in 1944, als Student der Literaturwissenschaft über Thomas Mann (der ja Hitler-Deutschland verlassen hatte und im Exil lebte), an der Universität hielt.

Hier der letzte Abschnitt dieser Rede:


„Ich bin am Ende. Ein fragwürdiger Dichter stand vor uns: einer der würdig ist, dass man nach ihm fragt, heißt das. Ein Dichter seiner und unserer Zeit, wie wir neben ihm keinen anderen besitzen, jedenfalls, was die Universalität des dichterischen ingenium betrifft. (…) Noch stehen wir Thomas Mann zu nahe, ich aber glaube, daß spätere Zeiten vielleicht einmal den Wilhelm Meister, den Grünen Heinrich und den Zauberberg in einem Atem nennen werden. (…) Thomas Mann zwingt uns zur Auseinandersetzung mit seiner Anschauung von Künstler und Künstlertum, mit seiner Weltsicht, der auch wir unmittelbar nahe sind, ob wir wollen oder nicht, wir Menschen des 20. Jahrhunderts, er hat uns als Dichter Endgültiges zu sagen. Verlieren wir in unserer Zeit, wo wir dem ‚Eingepreßtwerden‘ in eine bestimmte Anschauung auf allen Gebieten fast ganz zu verfallen drohen, nicht den Blick für die Vielzahl der Erscheinungen, versinken wir nicht in der Blicklosigkeit, laßt uns auch das, was man heute wegwirft, prüfen, ob es das Wegwerfen wirklich verdient, oder ob es uns nicht im Gegenteil sehr viel zu sagen hat, gerade uns!
Das war es, was mir am Herzen lag, was ich in einigen nächtlich geschaffenen, aus langem Vertrautsein mit dem Dichter erwachsenen, aber – leider – sehr unwissenschaftlichen Gedanken habe sagen wollen. Thomas Mann, Du großer Dichter, auf Wiedersehen!“



Was soll man Walter Jens in diesem Lebensabschnitt wünschen? Vielleicht, dass er die emotionale Ebene über die Inge Jens spricht, die Liebe seiner Familie, seiner Umgebung weiterhin wahrnehmen kann. Und vielleicht auch etwas von der großen Wertschätzung seines literarischen Publikums.

M.
 
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AW: Walter Jens zum 85. Geburtstag am 8. März)

aus dem Jahre 2001 in der Monatszeitschrift al tempo 10/2001

dort können wir ihn und seine Botschaft - wahrscheinlich schon im sicheren Wissen des Nachlassens seiner intellektuellen Kräfte - noch einmal erleben




HW: Wenn Sie in die Zukunft blicken: Sind Sie optinüstisch oder pessimistisch?

WJ: Ich vertraue darauf, daß Deutschland ein klein wenig mehr aus seiner Geschichte lernt, als es das immer noch tut. Ich hoffe darauf, daß die Arroganz mancher Westdeutscher kleiner wird. Wir im Westen haben keinen Grund, uns zu heben. Wir sollten die bestehende Zwietracht dadurch überwinden, daß wir im Westen ein wenig mehr Noblesse und Souveränität gegenüber denjenigen zeigen, die über Jahrzehnte hinweg die Benachteiligten gewesen sind. Ich stelle mir vor, wir beide säßen jetzt nicht hier in Tübingen, sondern in Naumburg oder in Halle an der Saale. Wir hatten erst Adolf Hitler und dann 40 Jahre Unterdrückung der Meinungsfreiheit im DDR-Regime. Wir haben wohl ein bißchen Anspruch - nicht etwa auf Mitleid - auf Gerechtigkeit. Und auf Noblesse und ein Bewußtsein auf der anderen Seite, daß man sich genauso verhalten hätte. Denn Moral oder Verstöße gegen die Moral sind nicht zäsuriert durch eine geographische Grenze. Nachdenken, Eingedenken, das wünsche ich mir. Und die Fähigkeit, mit Hilfe der Empathie - für mich die wichtigste Tugend - sich zu fragen, was man selbst in so einer Lage getan hätte. Wissen Sie, ich bin seit meinem dritten Lebensjahr ein schwerer Asthmatiker. Meine Frau sagt oft: Wenn man ihr gesagt hätte, ich bekäme die Westmedikamente nur, wenn sie dieses oder jenes mitteilen würde, könne sie nicht sagen, wie sie sich verhalten hätte.Kurzum, ich möchte gerne ein bißchen mehr Hoffnung haben, daß bestimmte notwendige Tugenden wieder mehr in Geltung gesetzt würden wie Höflichkeit, aber auch Bescheidenheit - nämlich die Anerkenntnis der eigenen Grenzen - dann Weisheit und Demut. All das scheint mir wichtig zu sein. Weiter halte ich Gespräche über die Grundgebote der Moral in leidenschaftlichem Pro und Contra für wichtig. Und ein Letztes: Ich möchte gerne in einem Land leben, in dem die Gesprächskultur weit mehr gefördert wird als jetzt. Man schaue sich die Talkshows an. Jeder sagt das Seine möglichst rasch, dann kommt der Nächste. Aber haben Sie schon einmal erlebt, daß einer sagt: «Da haben Sie mich überzeugt. Darüber muß ich nachdenken. Ich bin gar nicht mehr so sicher, daß ich in diesem oder jenem Punkt Recht habe. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.» Das ist für mich Humanität, zu sagen, da habe ich mich geirrt. Von Politikern hören wir das kaum, obwohl ich der Ansicht bin, daß derjenige, der sagen würde, daß er gelernt hat oder daß er auch nur Fragen stellen, aber keine Antworten geben kann, daß derjenige einen ungeheuren Popularitätszuwachs erleben würde. Und so würde er, indirekt, Humanität in Deutschland fördern.



Ich glaube, dieses Vermächtnis - dem Bekenntnis zum Diskurs können - wir hier in unserem Diskussionsforum ohne Wenn und Aber annehmen.






http://www.kultur-netz.de/archiv/literat/walter_jens.htm
 
AW: Walter Jens zum 85. Geburtstag am 8. März)

Danke dir Marianne, der Text ist sehr beeindruckend - und wenn du schreibst:

"Ich glaube, dieses Vermächtnis - dem Bekenntnis zum Diskurs können - wir hier in unserem Diskussionsforum ohne Wenn und Aber annehmen."


bezieht sich dies für mich hauptsächlich auf Walter Jens Worte:

Aber haben Sie schon einmal erlebt, daß einer sagt: «Da haben Sie mich überzeugt. Darüber muß ich nachdenken. Ich bin gar nicht mehr so sicher, daß ich in diesem oder jenem Punkt Recht habe. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.»

Ohne Rechthaberei. Einfach den anderen zuhören und darüber nachdenken.
 
AW: Walter Jens zum 85. Geburtstag am 8. März)

Vor der Krankheit Demenz ist keiner sicher... - das schmälert aber nicht die Denkleistungen, die ein solcher Mensch vor der Krankheit erbracht hat. Schön, dass ihr an Walter Jens erinnert. Er hat es sicherlich verdient; ich habe ihn erst im Umfeld um Ernst Bloch (bei der Beschäftigung mit dessen Philosophie) kennen und schätzen gelernt.
So brillant formuliert heute kaum noch einer, leider...
 
AW: Walter Jens zum 85. Geburtstag am 8. März)

hallo, forianer!

die hier so geschrieben werden es bestimmt gesehen haben, heute frühabend kam eine dokumentation über ihn auf Phoenix. die war richtig gut und eröffnete mir einen menschen, den ich bisher noch nicht gekannt hatte, der aber sehr folgenreich ist.
 
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AW: Walter Jens zum 85. Geburtstag am 8. März)

...noch ein Hinweis, in der aktuellen Ausgabe des Magazin "stern" ist ein Interview mit Inge Jens über die Erkrankung ihres Mannes...
 
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