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Nur eine Phase

Bernd

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Registriert
3. Mai 2004
Beiträge
8.643
Ich saß am Tisch und redete freudestrahlend, soweit ich dafür Worte finden konnte, über meinen aufregenden Tag. Hab geschaukelt, Fußball gespielt, Blumen gepflückt und einen dicken Käfer beobachtet. Die Oma lächelte zurück und Opa machte mit einer Handpuppe Unsinn...das macht er öfter. Dann bestellte ich noch ein Fischstäbchen und noch eins, sie schmeckten prima, ich quitschte vor mich hin und noch etwas Kartoffel, doch dann merkte ich, die Fischstäbchen schmeckten besser als die Kartoffel und gab sie Mama zurück. Doch da merkte ich, dass sich die Augen meiner Mama verdunkelten, die Kinnpartie bekam einen eigenartigen Tonus und sie sagte zu mir in einer eigenartigen Betonung NEIN. Ich solle das aufessen, was ich bestellt hätte, bevor ich das nicht esse, gibt es keinen Nachtisch. Daraufhin sagte sie noch ein paar Mal nein und ein eigenartiges Funkeln war in ihren Augen.

Hui. Auf einmal merkte ich, nun kommen meine Eltern in die Trotzphase. Ab jetzt wollen sie scheinbar die Erfüllung meiner Bedürfnisse mit Bedingungen verknüpfen. Aha, dachte ich, wahrscheinlich sind sie in dieser Phase, wo sie auf ihre und andere Eltern hören, auf Ratgeber und Kinderärzte. Nagut, dacht ich mir, diese Phase wird vergehen, lass sie sich austoben, lass sie diese Grenzen setzen, sie hatten nie Macht in ihrem Leben, sie lebten selber nie ihr eigenes Leben...nun wollen sie eben Macht über mich. Nagut, dachte ich. Ich tu ihnen den Gefallen und mache manchmal das was sie sagen, manchmal schreie ich herum, mal mach ich eine tierische Szene an der Kasse, weil ich merkte, dass es meinen Eltern Vergnügen bereitet, sich mit mir zu messen und zu gewinnen, ich merkte, dass sie den Triumph genossen, stärker zu sein. Und es tat ihnen gut. Je öfter sie mich besiegten, desto öfter redeten sie von Fortschritten. Es tat ihnen gut. Da ich bemerkte, die Eltern brauchen das, weil sie sonst nicht das Gefühl haben, alles richtig zu machen...spielte ich mit. Irgendwann werden sie schon merken, dass sie mich dazu benutzen, ihre eigenen Interessen zu befriedigen. Irgendwann werden sie schon merken, dass ich vorsichtiger werde. Irgendwann, so dachte ich, hab ich ihre Phase überstanden und kann wieder normal leben, leben wie es doch jeder tut, so dachte ich, einfach das tun, was ich grad möchte, einfach am Tisch singen und aufstehn, sobald ich keinen Hunger mehr hab. Das essen, worauf ich Appetit habe.

Ich steckte Monate und Jahrelang zurück und begann an mir zu zweifeln, begann zu überlegen, was richtig ist, und was falsch und ließ sie ihre Spiele spielen, ihre Gewalt, die sie mit dem Wort Grenzsetzen und dem Wort Erziehung legalisierten, durchführen. Und ich dachte, irgendwann merken sies.
Aber ich täuschte mich, es blieb nicht bei einer Phase.
Heute esse ich immer meinen Teller auf, auch wenn ich keinen Hunger habe und nenne das Anstand. Beim Einkaufen und Kochen zweifle ich manchmal ob das richtig für mich ist, inzwischen habe ich einen Ernährungsberater. Ich esse manchmal nichts, obwohl ich Hunger habe und nenne das Diät. Manchmal esse ich zu viel du bin unzufrieden mit mir. Ich esse bei Freunden immer auf, auch wenn’s nicht schmeckt, um ihnen nicht weh zutun. Heute, bin ich erwachsen. Heute merke ich, die Zeit, in der ich wußte was mir gut tut...war nur eine Phase.

Liebe Grüße
Bernd
 
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AW: Nur eine Phase

Hallo Bernd!

Ganz genau. Ich esse auch immer noch auf, ich bügle meine Geschirrtücher und kann erst "nach getaner Arbeit" ruhen....

Ich glaube, dass sich diese Liste lange fortsetzen ließe!

Ich kenne den Funkelblick meiner Mutter !!!Ihre Augen wurden dann immer ganz schwarz!

Ich denke heute- sie tat es nach bestem Wissen und Gewissen- und sie konnte irgendwann einmal sagen- es tut mir leid, wenn ich es deiner Meinung nach falsch gemacht habe- ich machte es, so gut ich eben konnte.

Das Ohrfeigen/ Schläge schlimm für mich waren kann sie heute noch nicht glauben, bzw. sagt sie- du hast es gebraucht. Das nervt mich immer noch- das braucht niemand!!!

Eine Therapeutin sagte einmal zu mir:niemand hat eine Kindheit ohne Scharten.
Das wird wohl richtig sein!

Liebe Grüße WW
 
AW: Nur eine Phase

MISSION: Rekonstruktion des früheren Kindes durch sich selbst

habe ich als junger Twen in Angriff genommen
und geschafft

das eigentlich Schlimme am Erwachsenwerden ist ja nicht die Zunahme der Vergesslichkeit oder dergleichen
(denn Kinder tun ja dasselbe)
das eigentlich Schlimme ist die Auslöschung der individuellen Denkphantasie

das hat den 'Vorteil',
daß man als Erwachsener viele Stunden dasselbe arbeiten kann,
ohne dieses als Folter zu empfinden
 
AW: Nur eine Phase

Natürlich haben unsere Eltern das alles getan, in der Annahme es sei gut und richtig. Genau so wie es deren Eltern getan haben und wir es ja eigentlich bei unseren Kindern auch so machen. Und die wiederum werden es bei ihren Kindern wieder so tun, auch wenn sie das heute noch nicht wahrhaben wollen.

Ich denke manchmal darüber nach, was möglicherweise aus mir geworden wäre wenn nicht diese Richtungsvorgaben, Grenzen, Gebote, Verbote und Aufgaben während meiner Kindheit gewesen wären.

Ich glaube das ich das Ergebnis lieber nicht kennen möchte.

Das man als Eltern dabei auch mal Fehler macht dürfte wohl jedem klar sein. Die meisten dieser Fehler haben aber in aller Regel die Erstgeborenen zu "ertragen".
Ich habe die Erfahrung gemacht, das man bei den jüngeren Kindern dann vieles schon viel gelassener angeht als man es bei dem ältesten getan hat. Das liegt wohl daran, so denke ich, das man beim ersten Kind in viele Situationen unvorbereitet hineingerät und dann auch oft sehr schnell entscheiden und antworten muß.
Die Chance hierbei falsch oder richtig zu leigen ist nun mal 50 : 50.

Ich gebe allerdings zu das mich selbst dieses antrainierte Teller leer essen auch stört. ;)
 
AW: Nur eine Phase


Ich steckte Monate und Jahrelang zurück und begann an mir zu zweifeln, begann zu überlegen, was richtig ist, und was falsch und ließ sie ihre Spiele spielen, ihre Gewalt, die sie mit dem Wort Grenzsetzen und dem Wort Erziehung legalisierten, durchführen. Und ich dachte, irgendwann merken sies.
Aber ich täuschte mich, es blieb nicht bei einer Phase.
Heute esse ich immer meinen Teller auf, auch wenn ich keinen Hunger habe und nenne das Anstand. Beim Einkaufen und Kochen zweifle ich manchmal ob das richtig für mich ist, inzwischen habe ich einen Ernährungsberater. Ich esse manchmal nichts, obwohl ich Hunger habe und nenne das Diät. Manchmal esse ich zu viel du bin unzufrieden mit mir. Ich esse bei Freunden immer auf, auch wenn’s nicht schmeckt, um ihnen nicht weh zutun. Heute, bin ich erwachsen. Heute merke ich, die Zeit, in der ich wußte was mir gut tut...war nur eine Phase.

Liebe Grüße
Bernd

Danke lieber Bernd für die "neue Sichtweise" dieser uralten Thematik. Eltern - Kinder - Eltern - Enkelkinder - etc etc.........

Ich habe schon viel Geld und Zeit investiert um zu schauen und spüren woher meine Neurosen, Schrullen und Schmerzpunkte herrühren.

Am besten lebe ich mit der Schlußfolgerung: ich habe meinen Eltern verziehen und ich hoffe meine Kinder machen das selbe für mich oder für sich........!

Lg Johanna
 
AW: Nur eine Phase

Hallo Reinhard,

vielleicht können wir hier weiter über Erziehungsstile diskutieren?

Obwohl ich die Darstellung von Bernd absolut originell finde, muß ich was dagegen setzen.

Ich setze meinen Kindern Grenzen, weil ich selber Grenzen habe.Meine Geduld ist begrenzt, meine Fähigkeit, Chaos zu ertragen, ist begrenzt, und die Strapazierbarkeit meiner Nerven ist leider auch begrenzt.

Hätte ich mir meine Grenzen eher eingestanden, hätte ich meinen Kindern wahrscheinlich viele ungerechte und unverhältnismäßige Anranzer ersparen können.

Hat jemand positive Erfahrungen mit dem antiautortären Erziehungsstil gemacht?

Liebe Grüße, Kaawi
 
AW: Nur eine Phase

Hallo,
die Geschichte ist gut geschrieben und lässt sich flüssig lesen bzw. verstehen.
Immer gibt es eine Prägung der Eltern auf das Kind, das ist wohl völlig automatisch und auch normal. Erst das erwachsen gewordene Kind kann entscheiden ob es diese Prägung für sich positiv oder negativ wertet. Ist es ein positives Gefühl wunderbar, dann kann es im Leben produktiv verwendet werden. Ist es jedoch ein negatives Gefühl muss die elterliche Prägung verändert werden, dazu ist das erwachsen gewordene Kind in der Lage, es kann neue Verhaltensmuster lernen und andere Denkweisen trainieren.
So ist es nicht nötig als Erwachsener zu sagen ich muss aufessen obwohl es nicht schmeckt weil es die Eltern immer verlangt haben. Das klingt wie eine Ausrede um nicht selbst die Entscheidung zu treffen.
Der Erwachsene kann sagen bevor ein negatives Gefühl entsteht, nein Danke!
Diese Entscheidungsfähigkeit beim Essen lässt sich durch Bewusstmachen der inneren Vorgänge trainieren bis das Gefühl automatisch Hunger oder Sättigung signalisiert. Dann läuft das Essverhalten in normalen Bahnen unabhängig von der Prägung der Eltern.

gruß fluuu
 
AW: Nur eine Phase

Hallo Kaawi.

Ich bitte dich einfach mal, nicht in autoritär oder antiautoritär zu unterteilen. Wie du bestimmt merkst, huscht man schnell in die bekannten Begriffe rein. Und wer nicht „das eine ist...muss das andere sein“. Mir geht es darum, anhand dessen, was man beobachtet – bei sich selbst, bei anderen - und was nun mal da ist, zu sehen, was nicht stimmig sein kann. Unabhängig von einer bestimmten Methodik. Und vielleicht aus dem was man erkennt, neues zu entwickeln. Vielleicht auch mit etwas Mut, bestimmte Institutionen generell anzuzweifeln, nicht nur „zu verbessern“.

Eine Diskussion um Erziehungsstile ist m.E. ein munteres Plaudern über Rechtfertigungen der eigenen Überzeugungen, von Selbsterlebtem, des eigenen Lebensweges oder von eigenen „Erziehungsfehlern“.

Ich erlebe die Menschen in Diskussionen um diese sog. Führungsstile, also diese Personalführungsschemen. Aber dabei geht es darum, die Menschen so effizient wie möglich zur maximalen Ausnutzung zu bringen, sie zu verwerten, sie sollen möglichst lächelnd 12 Stunden arbeiten und immer mehr wollen...diese Führungsstile und Stildiskussionen würde ich daher auf jeden Fall nicht in den Bereich der Kinder tragen. Ich empfinde Personalführung pervers genug...und weigere mich, den Verwertungsgedanken in die Kinderbegleitung einzumischen. Ihn eher in der bestehenden Erziehung zu enttarnen. Vielleicht hat jemand Lust, auch dazu was zu schreiben.

Viele Grüße
Bernd
 
AW: Nur eine Phase

Eine Diskussion um Erziehungsstile ist m.E. ein munteres Plaudern über Rechtfertigungen der eigenen Überzeugungen, von Selbsterlebtem, des eigenen Lebensweges oder von eigenen „Erziehungsfehlern“.

Lieber Bernd,
diesesmal hast du den Nagel auf den Kopf getroffen, genau aus dieser Stimmung, ausgelöst durch einen Wortwechsel in einem anderen Thema, heraus hatte ich meinen Beitrag geschrieben.
Natürlich komme ich deiner Bitte nach, auf die platte Einteilung autoritär-antiautoritär zu verzichten.

Liebe Grüße, Kaawi
 
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AW: Nur eine Phase

Hallo Bernd,

Ich bin begeistert von deinem Text, er müsste Pflichtlektüre für alle "werdenden Eltern" sein!

Ich empfinde Personalführung pervers genug...und weigere mich, den Verwertungsgedanken in die Kinderbegleitung einzumischen.
Die Lobbyisten, die unseren Bildungspolitikerrn in den Ohren liegen, dass der Kindergarten zu sehr Spielbereich sei und zu wenig Wissen vermittle, orientieren sich nur an diesem Verwertungsgedanken!!!

Ich bin durch Aktionen zum Barfußlaufen darauf gekommen, wie gut Möglichkeiten der Sinneswahrnehmung bei Kindern ankommen -- und wenn es nur ein simpler Barfußfühlpfad ist.

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Wahrnehmen mit allen Sinnen will tagtäglich geübt sein -- damit die Phase, in der wir wissen, was uns gut tut, nie vergeht!

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Körperbewusste Grüße vom Barfussdoktor
 
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