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Neues vom Grübelmonster

G

grübelmonster

Guest
„Mittendrin“
(Betrachtungen über Menschsein und Andersdenken)


Wenn du etwas über Menschen an sich erfahren möchtest, geh’ in einer Großstadt zum Bahnhof.

Seitlich vom Haupteingang der Taxen-Stand. Frauen und Männer verschiedener Nationen sehen zumeist nicht fröhlich aus, wie sie hinter dem Steuer in einer Zeitung lesen oder bis zum Auftauchen eines Fahrgastes vor sich hin dösen. Ein paar der Fahrer lehnen an den Autos und unterhalten sich -, lachen sieht man sie nicht. Sie stehen alle im Konkurrenzkampf untereinander: wann bin ich endlich an der Spitze ... der Taxi-Schlange?

Je nach Tageszeit hast du an den drei Türen des Haupteingangs manchmal Schwierigkeiten, hindurchgehen zu können. Mütter mit Kindern halten andere auf, hektische Herren mit kleinen eckigen Köfferchen sind in unfreundlicher Termin-Eile. Jugendliche mit Rucksäcken suchen auf einer Stadtkarte nach der Jugendherberge. Paare giften sich an. Paare strahlen sich an. Manche Paare haben alle Zeit der Welt auf ihrer Hochzeitsreise. Manche Paare eilen in großem Abstand zueinander zum Scheidungsanwalt. Da ist ein Herr mit einem Stockschirm, ist ein Kind mit einem Lolli, ist eine junge Frau mit einem Handy am Ohr.

Mittendrin bist du.

Stell’ dich in der weitläufigen Bahnhofshalle irgendwohin. An den Imbiß-Ständen kann man die Hungrigen leicht von den Fressern unterscheiden. Man sieht dicke und sehr dicke Menschen und dünne – und befindet: die Statistiken stimmen gar nicht, denn nicht jeder Dritte hier ist dick, nicht einmal jeder zehnte. Den dünnen Menschen kann man manchmal ansehen, weshalb sie nicht zu den dicken gehören. Da sind schlecht gekleidete Arme, die die Clochards am Stadtbrunnen besuchen wollen, und da sind schlanke Schönheiten, die für ihr Aussehen die Qual des Hungerns mehr oder weniger gern ertragen. Leicht geneigt ist man, einer Putzkolonne 1-Euro-Jobs zu unterstellen -: man muß einfach nur in die Gesichter sehen. Kinder weinen vor Anstrengung. Kinder laufen den Großeltern in die Arme, für die sie diese Reise angetreten hatten. Mütter sind stolz auf ihre Kinder, die Großeltern strahlen. Es gibt junge Mütter und alte, freundliche Väter und mürrische. Und es gibt Polizeistreifen, denen man Versnobtheit unterstellen möchte, aber vielleicht haben sie ja auch nur selber Angst vor Zwischenfällen. Hast du weißes Haar, zeigen sie dir freundlich den Weg. Bist du von schwarzer Hautfarbe, wackeln sie mit dem Unterkörper, um auf ihren Schlagstock aufmerksam zu machen, den sie – scheinbar unerreichbar – hinten tragen. – Ja, und dann sind da noch die Menschen mit den Masken, in deren undurchdringlicher Mimik ein Menschsein nicht zu lesen ist. Hektik überall. Die Atmosphäre in einer Bahnhofshalle ist schnell-lebig.

Mittendrin bist du.

Suchst du im Bahnhof so etwas wie Ruhe, geh’ jetzt, und stell’ dich auf einen Bahnsteig. Dort rennt niemand, dort schreit niemand. Dort schluckt zumeist niemand mehr hastig erworbenes fastfood, sondern kramt vielleicht nur die Stullen aus dem Gepäck, die ein fürsorglicher Angehöriger dort hineingesteckt hat. Traurige sehen sich an, die sich trennen müssen. Fröhliche sehen sich an, die eine gemeinsame Reise antreten. Brummige schubsen dich vom Fahrplan weg, weil sie nah herantreten wollen, um ihre Brille nicht suchen zu müssen. Vielleicht fragt dich einer, der unter der hoch hängenden Bahnhofs-Uhr steht und sie somit nicht sehen kann, nach der Zeit. Vielleicht auch sieht dich einer hilflos an, ob du ihm beim Einsteigen mit seinem Gepäck helfen würdest. Vielleicht meint sogar einer, dich zu kennen und starrt herüber. – Dann kündigt der Lautsprecher die Einfahrt eines Zuges an und manche Reisende formieren sich an der Bahnsteig-Kante, in vorderster Reihe die chronischen Drängler und die, die keinen Sitzplatz gebucht hatten. Andere treten in den Hintergrund, sehen seufzend auf ihre Armbanduhr und wirken resigniert oder ungeduldig. Der kommt, ist noch nicht ihr Zug.

Und mittendrin bist du.

Ein Zug fährt ein: lautlos, schnittig, silbrig, ... arrogant. „Achtung an der Bahnsteigkante.“
Dem, der sich vor den Zug werfen will, ist die Warnung gleichgültig. Die meisten anderen wissen, daß kein zischender Dampf von der Lokomotive her einen mehr verbrühen kann und daß die sorgfältig metall-verkleideten Räder kein Öl mehr auf den Bahnsteig spritzen. Es ist ja jetzt „jetzt“ und nicht mehr „früher“. Denen also ist die Lautsprecher-Warnung ebenso gleichgültig. Letzte Küsse, letzte Ermahnungen, letzte Rufe. Man möchte winken, sieht sich selbst in den spiegelnden Fenstern des Zuges, nicht aber den, dem man einen letzten Gruß mitgeben möchte -, die Hand fällt wieder herunter. Ob er wohl einen Platz gefunden hat? Gute Reise! Gedanken hin, Gedanken her. Von hier nach da, von dort nach hier. Sogar noch, wenn der Zug in der Ferne nicht mehr sichtbar ist. Sogar noch morgen. Vielleicht jeden Tag. Vielleicht immer.

Und mittendrin bist du.

Den Mann mit der roten Mütze und der Trillerpfeife gibt es immer noch. Es gibt Menschen mit blondem Haar und welche mit weißem. Da werden draedlocks von kleinen bunten Kappen verdeckt, Glatzen von Schlägermützen und Religions-Zugehörigkeiten von Kopftüchern. Ein Schal kann Wärme-Spender sein oder Zier. Manche Mäntel sind lang, andere tragen nur second-hand. Alte Frauen haben keine Scheu, ihre Pelze anzuziehen. Tierschützern sind Pelze ein Dorn im Auge, anderen alten Frauen sind sie jetzt zu schwer für die ausgeleierten Schultern. Ist man mit Schmuck behangen, sollte man auf die Warnungen vor Taschendieben hören. Auch die Menschen in den Hungerländern haben Schmuck, aber doch keine Preziosen. Wer eines Lederkoffers stolzer Besitzer ist, muß dafür um so schwerer tragen. Dir fällt dein Vater ein und was er erzählte: daß sie ihre Schulbücher in Taschentücher eingeknüpft zum Unterricht trugen. Was du nicht kennst, kannst du nicht vermissen. Aber auch nicht alles, was du kennst, kannst du besitzen. - Auf dem Bahnsteig sind wieder andere Reisende hinzugekommen und werden zu Wartenden.

Und mittendrin bist du.




Du bist aber kein Reisender mehr wie früher - mit Koffer oder Tasche und einem Ziel. Das Ziel ist längst erreicht -, das Ende aller Reisen, aller Irr- und Umwege, aller Geisterbahnen, Kurven und Geradlinigkeiten. Du stehst mitten im Lebendigen in einem Bahnhof, die Vollendung allen Suchens vor Augen, und betrachtest das Menschsein jetzt als Andersdenkender: wenn die Reisen deines Lebens beendet sind, mußt du Mensch geworden sein. Dann bleibst du mittendrin.
 
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* mittendrin* 2

Aus meinen Halluzinationen


Zwei rosa Strohhalme trafen sich in einer Krankenhaus-Ambulanz.
Der eine hatte in der Mitte seines Körpers eine etwas aufgehellte, querverlaufende Kerbe. Dadurch sah es aus, als ob er leicht gebückt einherginge.
Der andere stand hochaufgerichtet, was einen Eindruck von Arroganz hinterließ.

Fragte der erste: bist du auch krank?
Sagte der zweite: Klar -, sonst wäre ich ja nicht hier.
Und zu welcher Abteilung mußt du gehen?
Zur Urologie. Und du?
Zur Chirurgie.
Aha.

Fragte wieder der erste: Und weswegen mußt du dorthin?
Ich kann kein Wasser halten. ... Und du?
Ich habe einen Leistenbruch. Siehst du hier?“ Und er zeigte auf die oben beschriebene Kerbe. „Der ist entstanden, als ich mich gebogen habe vor Lachen.“
Wieder der zweite: Ja ja, da fragt man sich, ob es besser wäre, einen Knick in der Linse zu haben.“
“Wem sagst du das ...“

Sie schwiegen eine Weile, bis ein erster grüner Strohhalm kam, der den einen rosafarbenen zum OP holte, wo sich mehrere blaue Strohhalme darüber unterhielten, wie die Operation des Bruchs anzugehen sei. - Ein zweiter grüner Strohhalm holte den anderen rosafarbenen zur urologischen Ambulanz, wo ihm ein blauer Strohhalm erklärte, daß es fast unmöglich sei, ihm zu einem Schließmuskel zu verhelfen.

Ich selber sitze nun hier in dem Vorraum der Klinik als ganz natürlicher Strohhalm (aus einem Stall), an den ich mich immer klammere, wenn die irren Bilder flimmern. Und so warte ich -, warte und warte, bis die Rosafarbenen wieder auftauchen, damit ich weiter (be-)schreiben kann.
 
* mittendrin * 3

ZEIT


Zeit vergehe – weise mich – schnell muß es sein -schrieb ich doch, schrieb ich nicht, schrieb ich falsch – die buchstaben klein, die buchstaben schief – nahe, fern – mit Blaulicht - auf einer Tafel - unter den Decken – stell ab - welch ein Fallen - in jene Welt.



Zeit vergehe – weise mich – zur Offenheit – ich hol ihn raus – Infusion - die Kreide an der Wand zerbricht – sechster Stock - geh nicht – mari´s rote Vögel fliegen – überall – mit Überschall und findens nicht. Dein Gesicht.



Zeit vergehe – weise mich – mein Schlaf ist längst vorbei – erträgst dus noch? - schreibe ich – keinen Brief – wir fahrn zurück - der Schlag war hart – verblutet – hilft mir keiner, hilft mir einer – wo ist die Frau? - verliere Zeit.



Zeit bleibe – es ist spät - ich schreibe – du schreibst – er schreibt – sie schreibt - was bleibt, was bleibt? – lose Blätter – Korb – das arme Kind - Feder – rote Tinte – kannst du das noch?






UHR wie spät – wie alt – wie krank – wie lange noch ...- so jung – ruf ihn zurück – nicht weinen – bist du böse auf mich? – wir haben uns verfahren – es eilt, es eilt
 
* mittendrin * 4

ertrunken



Gleich unterhalb der Wasseroberfläche kann man noch denken, falls man nicht aus zu großer Höhe gesprungen ist. Und man stellt fest: wenn du untergehen sollst, hilft es dir auch nicht, schwimmen gelernt zu haben. Hat man bei allem noch Glück, entwickeln sich die wedelnden Arme zu zarten Flossen und die Beine zu einem rudernden Fischleib. Was du immer schon wolltest: dein Körper erinnert jetzt an einen Ritter mit silberner Rüstung, den man nicht mehr verletzen kann. Um dich herum blubbern gläserne Wasserbläschen und steigen nach oben, von wo du kommst. Hier herrscht noch Helligkeit. Ein rosa Wesen mit rundem Mäulchen und neugierigen Augen schlüpft an dir vorbei und verschwindet in Gräsern, die durch das windbewegte Wasser hin und her schwingen.

Das alles fand ich in Ordnung, erträglich und eigentlich fast interessant. Ich fragte mich, was die Haie wohl von mir hielten, wenn ich dann in südlichere Gewässer treiben würde -, und ob ich wie Jonas meine Reise in einem Walfisch-Bauch beenden müßte. Tiefer in diesem bekannt-unbekannten Element wurde es dunkler, mehr und mehr große Steine lagen im Weg, ein altes Holzboot war von Algen besetzt -, es trug die Aufschrift <Syrenna>. Mag sein, daß ich mich jetzt in der Adria befand. Ich tauchte auf in einen warmen Bereich des Wassers, in eine hellere Zone, sog oberhalb einige Kiemen voll Luft ein und sah mich dabei gegenüber einer jugoslawischen Stadt, die mir bekannt vorkam. Ich beschloß, in dieser Gegend zu bleiben, und schoß wieder in die Tiefe. Bunte Korallen winkten mir freundlich zu, und ganz unten wollte mir eine Muschel ihre Perle schenken. Sie habe sich verschwommen und brauche den Schmuck nicht mehr. Ich dankte ihr und erwiderte, daß irgendwo in meinem verlassenen Menschsein noch viele solcher Perlen herumliegen müßten, so sie sich nicht in Tränen verwandelt haben. Ach, meinte die Muschel, über Selbstmörder weint keiner. Dann wurde sie verdeckt von einem Schwarm vorwitziger Fischkinder, die die Perle zum Spielen mitnahmen.



Nixen sind See-Jungfrauen und See-Pferdchen sind Männer. Natürlich meiden sie sich. Auch im Reich der Fische bleibt man sich gegenseitig fern. Ich tauchte tiefer in die Dunkelheit, bis mir die Sinne schwanden und ich nicht mehr nachdenken mußte, daß es aus der Verwirrnis ja doch keinen Ausweg gibt.
 
* mittendrin * 5

vor meinen Fenstern: mitten im Herbst


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Hallo grübelmonster!

Ich bin ganz begeistert von deinen Geschichten !
Du bist wirklich mittendrin...im Leben!

lG Klapotetz
 
Hallo Grübelmonster!

Kompliment, dein Geschriebenes gefällt mir wirklich gut.
Ich befinde mich glaube ich gerade in der Stimmung die du bewußt/unbewußt transportierst.

Beim Bahnhof liefen mir aus für mich nachvollziehbaren Gründen die Tränen.

Liebe Grüße
Sal
 
* mittendrin * 6

* hineingetreten *

Schlimm genug, daß man in diesem Forum "denken" soll.
Aber es kommt noch schlimmer.

Da las ich doch an anderer Stelle, daß man hier „meckern, streiten, versöhnen“ dürfe.
Was soll denn das?
Zum Meckern und Streiten bin ich doch nicht bis in die Schweiz gereist -, das kann ich auch zu Hause erledigen.
Und zum Versöhnen müßte ich mich erst einmal streiten.
Also: siehe oben.

Und dann habe ich noch gelesen, jene Rubrik sei geeignet für „alles, was man los werden möchte“.
Grübel: ob die das wirklich so meinen?? Alles, was man (manchmal) los werden möchte?
Nein, Leute, da mache ich nicht mit.
Für solche Zwecke – so bin ich erzogen worden – geht man in ein kleines Häuschen, auf dem manchmal „nullnull“ steht, das manchmal ein Herzchen-Fenster in der Tür hat, kann sein – daß es da auch noch die alten Plumps-Klos gibt oder die sogenannten „Donnerbalken“---, oder aber sie heißen elegant „toilettes“.

Und was meinerseits des weiteren zu bemängeln ist: wer sagt denn ..., also nein, nein - ich will hier ja gar nichts „los werden“.

Ich will eigentlich nur fragen, ob man hier auch „Quatsch“ schreiben darf, Ulk, Blödsinn -, eben Un-Ernstes.
Wieso?
Weil ich mich krank lachen könnte über die Bezeichnung „Tastaturschoner“. Wenn ich mich aber ausgelacht habe, muß ich erst einmal eindringlich erklären, daß ich einfach keiner bin.
Wieso?
Fragen Sie einmal meine alten Tastaturen! Auf denen finden Sie keinen einzigen Buchstaben mehr. Alles weg-getastet.

Also bitte!

Nun hoffe ich allerdings, daß ich nicht hineingetreten bin (ins Fettnäpfchen).
 
* mittendrin * 7

... wo die Dächer schiefergedeckt sind


Ein paar Touristen im Sommer -, sonst kommt niemand in diese Gegend. Zonengrenze. Grenze wohin? Abgrenzung wogegen? Die Menschen hier sind verschlossen. Randgebiete. Da ist alles anders als hinter den Grenzen. Dort, wo die Landkarte keine Auswüchse mehr hat, die wie rudimentäre Überflüssigkeiten wirken. Das ist die Gemeinschaft hinter den Grenzen. Die Leute hier gehören da nicht hin. Irgendwann sind sie vergessen worden.

Sie leben doch in einer schönen Landschaft, in der die Bäume im Süden nie ihre Nadeln verlieren und die Bäume im Norden sich im Herbst ein buntes Kleid anlegen. In der es sanft-hügelige Landschafts-Konturen gibt und kleine Gebirge mit hingestreuten Felsbrocken und hurtig sprudelnden Bächlein. Wo manch eine Mühle im Tal steht, deren großes Rad nun morsch ist und von Moos überzogen, und wo Ruinen hoch auf einem Berg Neugier erregen. Da wird der Pflug noch von Pferden gezogen, werden Stoffe in Handwebereien hergestellt und in kleinen Fabriken gefärbt. Naturbelassene Gegenden werden durchzogen von Feldern mit saftiger Krume, auf der ein Überfluß wächst. Die Sommer sind heiß, und in den Wintern vereisen die Fensterscheiben der Wohnungen. Kinder hauchen Löcher in das Eis, um hinaussehen zu können.

Aber die Leute sind verschlossen und ihre Häuser schiefergedeckt. Das gibt dem Betrachter auf dem Hügel beim Blick auf eine Ortschaft ein graues, trübes Gefühl. Vielleicht kommt deshalb niemand gern hierher. Sogar die Kirchtürme lassen freundliche Farben vermissen, und beim Klang ihrer Glocken muß man Sprünge im Erz vermuten. Reich ist hier niemand. Ein paar Autos nur. Wohin auch sollten die fahren? An den Grenzen endet das kleine Land, in dem die Menschen verschlossen und die Häuser schiefergedeckt grau sind.



Ein Fremder kam, kaufte vom Vogt ein kleines Haus, dessen Eigentümer kürzlich verstorben waren, und zog dort ein. Er schien ebenso wortkarg zu sein wie die Menschen hier, die ihn zuerst mit Mißtrauen betrachteten und dann bald ablehnten. Schließlich gehörte er nicht in diese Gegend. Wer weiß ... Man mied ihn. Ihm schien es recht zu sein. Seine Hütte lag am Ortsrand mit Blick auf die Landschaft -, er störte keinen. Keiner auch konnte sehen, was er so trieb, aber Neugier hatten die Menschen hier sowieso längst verlernt.
Bald nachdem der Fremde in das kleine Haus eingezogen war, kräuselte sich weißer Rauch gegen den blauen Himmel -, so ein bißchen eine zerfaserte Rauchsäule, weil der Schornstein nicht mehr intakt war. Manchmal drangen Töne eines kleinen Instruments bis in das Dorf, und der eine oder andere horchte kurz auf. Die zuerst aufwachenden Dorfbewohner sahen den Mann hin und wieder aus den Wäldern zurückkehren, von wo er Reisig zum Heizen und Waldfrüchte zum Verzehr mit sich brachte. Er wusch seine Kleidung in einem kleinen Trog vor dem Haus und hängte sie dann in den Wind. Wie er aber seine übrige Zeit verbrachte, blieb verborgen. Das anfängliche, allerdings auch nur leichte Interesse der Dorfbewohner wich schnell wieder einer eingefahrenen Gleichgültigkeit.


Vor dem nächsten Sommer sah man den Fremden auf dem Weg zur Grenze. Er trug einen schlaffen Rucksack mit sich und einen kleinen ledernen Beutel. Sein Haar war inzwischen lang geworden, sein Gesicht wettergegerbt, seine Mimik wie stets ausdruckslos. Als er in den kommenden Wochen nicht zurückkehrte, erlosch jegliche Neugier bei den Dorfbewohnern, wo er wohl hingegangen sei und wo er wohl bliebe. Aus manchen kurzen Gesprächen war zu entnehmen, daß man erleichtert sei, wieder unter sich sein zu können. Niemand kümmerte sich um das kleine Häuschen, das dem Dorf ja nicht mehr gehörte. Nie ging jemand dort vorbei, um durch die bereits trüben Fensterscheiben ins Innere zu blicken. Es war, als seien der Fremde und sein Hiersein nur ein Spuk gewesen.

Indessen verlief im Dorf ein Tag wie jeder andere. Manchmal starb jemand, manchmal wurde ein Kind geboren. Manchmal mußte jemand wegen Irrsinns weggesperrt werden, den man dann in der ersten Zeit durch die Nacht heulen hörte, bis er sich ergeben hatte. Es kam von der Inzucht, daß sich die Personen von Generation zu Generation mit neuen Gen-Defekten abfinden mußten -, seien es verkümmerte Gliedmaßen, fehlgestellte Gelenke, Kröpfe oder verwirrte Gehirne. Die Menschen hier konnten Schmerzen ertragen. Einen Arzt gab es nicht. War man sehr krank, dann starb man eben. Sie beteten auch nicht -, niemand hatte ihnen je von einem Gott erzählt.

Eine Enklave Verdammter?

Es war fast ein Jahr vergangen, seit der Fremde den Weg zur Grenze gewählt hatte, als eines Tages ein neumodisches Gefährt bei dem kleinen, nun schon Verfall aufweisenden Haus am Ortsrand hielt. So stoisch die Dorfbewohner sich sonst gaben: nun waren sie erschreckt, daß mehrere Personen das Fahrzeug verließen und sogleich von der Rückseite her wieder einstiegen und eifrig eine Menge von Kisten und Koffern herausholten und neben das Haus stellten. Wer näher gekommen war, konnte sehen, daß auch der Fremde von damals wieder unter den Angekommenen war -, ebenso bemüht wie die anderen und ebenso bedrohlich auf die Leute aus dem Dorf wirkend wie diese. Niemand von denen kümmerte sich um die verängstigten Gaffer -, auch sprachen sie wenig. Schließlich verschwanden sie durch die verrottete Tür, die sich nur noch mit Gewalt öffnen ließ, im Inneren des kleinen Hauses. Bald stieg wieder Rauch aus dem zerfallenen Schornstein wie damals. Man konnte Gemurmel hören. Der fahle Lichtschein in den Fenstern mußte von Kerzen kommen. Die Dorfbewohner zogen sich wieder zurück in ihre Hütten. Ein paar Männer diskutierten noch eine Weile leise auf dem Dorfplatz. Dann stand der Vollmond am Himmel und störte die Menschen im Schlaf.




Warst du gezwungen, über Schiefer zu waten, hinterläßt das tiefe Wunden. In Deinem Herzen ..., für immer, nachdem die blutenden Schürfungen an deinen Füßen längst verheilt sind. Schiefer ist ein gräßliches Gestein: brüchig und verarbeitet völlig farblos. Eine Mischung aus schwarz und weiß, welches – physikalisch gesehen – eben keine Farben sind. Und Farben braucht der Mensch. Farben muß auch ein Blinder sehen dürfen.

Die Menschen in den schiefergedeckten Häusern ließen Ausstrahlung vermissen. Sie waren farblos und brüchig wie das Gestein in ihren Steinbrüchen, das sie der Natur entrissen und zu ihrem Eigentum machten. Das schien berechtigt, - gewesen -, damals. Wo Überfluß ist, darf der Mensch teilhaben. Aber es waren die Anfänge der Umwelt-Zerstörung. Manchmal rächte sich die Natur durch einen Blitz und versetzte die Schieferdächer in einen Haufen mattglänzender, bräunlich verschmorter Splitter.



***

Über all das dachten die Männer am Waldrand wahrscheinlich nicht nach. Sie beschäftigten sich ein paar Tage lang an der Hütte und um sie herum. Am Ende stand da so etwas wie ein Zaun gegen neugierige Augenblicke. Dann stiegen sie wieder in ihr Gefährt und verschwanden aus der Gegend. Zurück blieb lediglich derjenige, der den Dorfbewohnern nicht mehr ganz so fremd war -, eben von damals, als er vom Vogt das Haus gekauft hatte. Das Interesse an ihm aber war längst geschwunden und auch kein Thema mehr unter den Bäumen am Markt. Die Bewohner der schiefergedeckten Häuser ödeten wieder vor sich hin.
Indessen war der Mann in dem Abbruch-Haus arbeitsam beschäftigt mit der Erstellung seltsamer Zahlenkolonnen und Seiten voller fremder Zeichen auf einer Art Papier, die im Dorf erneut Erstaunen, Neugier, vielleicht auch Furcht erzeugt hätte. Eigentlich war es gar kein Papier, sondern waren es dünne Tafeln, grau wie die Dächer in dieser Gegend und hart wie das Gestein in den Wäldern. Mit einer Art Griffel, auch uns noch aus alten Zeiten bekannt, ritzte der Mann jene Zeichen, Zahlen und Figuren in die Tafeln, wobei manchmal quietschende Geräusche entstanden, die dem Ohr dessen, der sie mithörte, weh taten. Für einen, der um das Haus geschlichen wäre aus Neugier, mußte sich das seltsam anhören: Quietschen kannten die Leute hier nur von ihren rostigen Türangeln. Aber da schlich keiner.

Als der Mann einen größeren Stapel dieser Plättchen „beschriftet“ hatte, fing sich eines Morgens die Sonne in einer der trüben Fensterscheiben und ließ sie zerspringen. Alsbald drang das Quietschen durch die Bäume bis ins Dorf, wo man eiligst die Frauen und die Kinder wegsperrte und sich als Mann den Schein großen Mutes umlegte. Dann zogen die alten und die jungen Männer in ihren ersten Krieg. Jedenfalls haben Annalen-Schreiber das so beschrieben. Wie dieser „Krieg der Einfältigen“ geendet haben mochte, wußte dagegen niemand zu berichten. Niemand auch fand jemals dieses Dorf oder Zeichen dafür, daß es tatsächlich existiert haben könnte.


**********


In einer Kreisstadt in Oberfranken – gelegen zwischen Fichtelgebirge und Frankenwald – beriet man im Rathaus in Anwesenheit einiger Ärzte und Juristen über einen Mann, den man in den Wäldern vor dem Ort aufgegriffen hatte, der aber keinerlei Aussagen über seine Identität machen konnte. Das kleine Krankenhaus hier war nicht eingerichtet, jemanden zu „verwahren“. Sie hatten den Mann zunächst einmal in einem Zimmer eingeschlossen, wo er versorgt wurde von Krankenhaus-Personal --, aber dieses war natürlich keine Dauerlösung. Jemand meinte, man könne ihn ins Verließ der nahegelegenen Burg sperren. Ein anderer wurde ärgerlich: dann vielleicht besser in die letzte erhaltene Baracke des wenig entfernten ehemaligen Konzentrationslagers?? Vielleicht in die Sakristei der Kirche -, fand einer aus dem Stadtrat. Oder in eine Abstellkammer des Krankenhauses, regte der Chefarzt an. Aber nein, meinten die Juristen, ohne Gerichtsbeschluß ist das alles nicht möglich. Jaja, das ist `mal wieder eine dieser Nonsens-Situationen, die einem ja doch niemand glaubt. – Dann schritten sie gemeinsam, um sich den Mann noch einmal aus der Nähe zu betrachten. Vielleicht fiele einem von ihnen dabei doch noch eine gute Lösung ein. Aber der Mann war verschwunden -, wie auch immer er das angestellt hatte, denn die Tür war auch jetzt verschlossen.






Sie, geneigter Leser, halten das alles für Unsinn?

Nun, was soll ich sagen? –
Sind wir nicht alle manchmal „schiefergedeckt“?

Ich hoffe, das Haus, in dem Sie wohnen, hat ein rotes Dach – und keinen Schaden.
 
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* mittendrin * 8

Was gestern mir die Freundin erzählte


„An jenem Sonntag dachte ich, es müsse einen Weg geben, den ich zwischen meinen Wänden nicht finden kann. Draußen doch verfremdete sich Bekanntes: Baumreihen wichen zurück, Geräusche verminderten sich, Farben verblaßten. Ich ging mittendrin umher wie auf einer Insel. Wie ausgesetzt -, nicht mehr integriert in die Normalität. Ungestört in der Wahrnehmung: jetzt sind die Bäume üppig, barock, erdrückend vor dem Herbst. Jetzt beginnen die Regentropfen an den Zweigen zu frieren nach dem Sommer. Jetzt bleiben neue Triebe klein zwischen den Jahreszeiten. Man sieht das alles wie weggezoomt -, scharf auch nicht - und als würde man am falschen Ende durch ein Fernglas blicken. Und dieses Alleinsein war ungewollt und krank und kaum zu beschreiben. Real bin nur noch ich, zentriert auf eine ungewöhnliche Weise und in einer schwer zu akzeptierenden Verlassenheit. Zorn kommt auf -, eher eigentlich Neid. Weshalb denn sind alle anderen so normal, erkennen sich und sprechen miteinander? Wo grenzt De-Realisation vielleicht schon ans Absurde?

Es gibt immer einen Ausweg. Und sei es ein steiniges Tal. Aber heute bewegen sich wieder die etwas entfernter stehenden Bäume vor den Fenstern stadteinwärts. Es ist, als säße man in einem Zug und sähe die Landschaft an sich vorbeifliegen in die entgegengesetzte Richtung. Der Tinnitus ist sehr heftig, befreie deine Carotiden vom Druck, meint er, vielleicht sollte ich die Schultern sinken lassen, aber ich bin einfach zu klein geworden. Es ist wieder Sonntag wie jener, als mich die Geister verließen, und außer im Wind haben sich die Bäume lange nicht mehr bewegt. Wenn sie wieder stehen, ihren Platz hüten, wieder sind wo sie hingehören, wird es mir wieder besser gehen. Was sind schon die fünf Jahre, die wir noch haben, sagte einer, der noch kaum so alt sein kann wie ich. Er meinte, kontrolliert könnten uns die Drogen nicht mehr schaden, für mich aber schien es wie eine Drohung, denk’ an dein Ende, sei bereit, und ich will mir noch schnell die Nägel schneiden mit diesem Maschinchen, dem man seine guten Funktionen nicht angesehen hatte durch die Verpackung.

Es ist wieder wärmer geworden. Sie liegt draußen unter dem Tisch, sie schläft, ihr sind die Bäume egal. An meinem Fenster krabbelt außen eine Wespe hoch, so schmal schon geworden im mangelhaften Sommer, daß nicht einmal die Vögel sie noch fressen möchten. Nebenan hustet die alte Frau, für die ich nachts um die Häuser geschlichen bin und die Wände ihrer Wohnung mit dem Stethoskop abgehört habe, um herauszufinden, woher die Stimmen kamen, die Musik, die sie hörte, die Nazi-Lieder, die gar niemand sang. Jetzt tu ich nichts mehr für andere, die mich nachts um drei anrufen, weil sie sich schlecht fühlen, wer fragt denn mich einmal nach mir. Sie machen sich Sorgen, sagen sie -, ja, seltsame Sorgen, von denen man nichts bemerkt. Die Bäume fahren noch immer -, heut’ ist ein verlorener Tag für mich, einer derjenigen aus den letzten fünf Jahren. Wie kann jemand nur so etwas sagen? Es ist sehr still hier – heute – jetzt. Aber um fünf Uhr bis sechs morgens dröhnten die Lautsprecher des nahegelegenen Stadions eine irrsinnige Musik in die Betten der Schläfer, die nicht wie ich die senile Bettflucht haben und um vier Uhr aufstehen. Da war ich ganz gehässig und lachte und dachte nicht daran, daß ich vielleicht neidisch sein könnte.

Sie ist inzwischen hereingekommen, hat ein bißchen gemaunzt und sich dann neben meinen Tisch gelegt. Wie wird es ihr wohl gehen, wenn sie eines Tages da nicht mehr liegen kann. Vielleicht kommt sie in eine Tier-WG mit Hunden und anderen Katzen, wo niemand ihr auf dem Balkon einen Tisch aufstellt mit einem geschützten Lagerchen darunter, wo auch niemand weiß, welches ihr Lieblingsfutter ist. Es geht mir jetzt etwas besser, vielleicht von der halben Tablette, die Bäume sind ruhiger geworden, nur wenn ich aufstehe, wird mir übel ...,

... ach weshalb sollte es einem auch jeden Tag gut gehen müssen.“





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