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Müssen wir Wildtieren helfen?

Dyrnberg

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11. Juni 2022
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Eine sehr simple Frage aus dem Bereich der Tierethik: Welche positiven Pflichten haben wir gegenüber Wildtieren? Mich würden Eure Meinungen und Begründungen interessieren. Ich gehe dabei von einem Text der amerikanischen Philosophin Clare Palmer aus. Diese beginnt einen ihrer Texte mit folgendem Beispiel (meine Übersetzung):

"Ich beginne damit, eine imaginäre Situation zu konstruieren, aber eine die, wie ich hoffe, nicht zu weit hergeholt ist. Nehmen wir an, es ist ein harter Winter, und eine unerschrockene Wandrerin macht einen langen Spaziergang. Der Boden ist eisig und mit Schnee bedeckt und es weht ein starker, kalter Wind. Auf einem nahegelegenen Feld in der Nähe sieht die Wandrerin zwei kurzhaarige Pferde. Die Pferde haben keinen Unterschlupf, ihr Wassertrog ist gefroren und sie haben kein Futter – Bedingungen, die bekanntermaßen zu einem schlechten Tierwohl der Pferde führen (Universität von Maine, 2003). In einer Ecke desselben Feldes, tief im Schnee befinden sich ein paar wilde Rehe – eine Hirschkuh und ein Kitz. Auch den Rehen fehlt es an Unterschlupf und Wasser, und wie die Pferde haben sie nichts zu fressen. Während die Wandrerin den Tieren zusieht, rennt ein junger Kojote ins Feld und versucht, das Rehkitz zu töten. Schließlich, nach einigen Versuchen, erwischt der Kojote das Kitz und es gibt einen blutigen Kampf im Schnee.

Für die Wandrerin könnte diese kalte Winterszene ethische Fragen aufwerfen. Sollte sie den frierenden und hungrigen Pferden helfen oder zumindest jemand anderen finden, der ihnen helfen kann? Aber wenn ja, bedeutet das, dass sie, um konsequent zu sein, auch den frierenden und hungrigen Rehen helfen sollte? Sollte sie eingreifen, um zu verhindern, dass der Kojote das Rehkitz reißt – vorausgesetzt, sie könnte es, ohne sich selbst zu gefährden? Oder könnte ein solches Eingreifen sogar falsch sein? Ganz allgemein: Welche Art von moralischer Verantwortung haben wir gegenüber Wildtieren wie dem Reh, und unterscheidet sich diese von unserer Verantwortung gegenüber domestizierten Heim- und Nutztieren wie den Pferden?"
 
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Ich halte nichts von universalen Lösungen für alle und jeden.
Wenn ich mich in einer Situation befinde, werde ich entsprechend stimmig handeln.
Ein anderer mag in seiner Situation anders handeln.
In das Verhältnis Kojote/Kitz würde ich wohl nicht eingreifen.
Ob ich die durstigen Pferde als solche ekenne, weiß ich nicht.
Möglicherweise würde ich telefonieren.
 
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Wenn schon alte Kulturen in einer gewissen Weise für uns verloren sind, wie Du an anderer Stelle schreibst, um wieviel mehr ist uns dann der Zugang zum Tierreich verstellt? Ich meine zwar, dass wir eine ethische Sensibilität zur Hilfe für die fühlenden Wesen (zu denen Tiere zählen) entwickeln können und begrüße diese, gleichzeitig sollten wir bei einer echten Reflexion aber auch unsere Neigung zu Projektionen, unreflektiert übernommenen Vorurteilen und die allgemeine Ungeschicktheit des Menschen im Umgang mit 'der Natur' berücksichtigen.
Vieles, was der Mensch meinte an 'der Natur' verbessern zu müssen, entpuppte sich nach oft erschreckend kurzer Zeit als mindestens ambivalent, wenn nicht destruktiv. In meiner Kindheit regierte ein ungebrochener bis euphorischer Fortschrittsoptimismus - der vor allem auf Technik beruhen sollte - ein paar Jahrzehnte später fragt man sich, ob die Menschheit das Jahr 2100 noch erleben wird.

Aber zurück zur Frage. Das große Ganze zu verstehen misslingt uns, aber wenn Zufall oder Schicksal uns das Leid vor die Füße spült, sind wir m.E. aufgefordert eine begründbare Entscheidung zu treffen, weil wir als prinzipiell ethische kompetente Wesen ja nun angesprochen sind - wir können nicht so tun, als hätten wir das nicht erlebt.

Für domestizierte Tiere haben wir m.E. eine größere Verantwortung, da die Domestikation ja schon einen ' Vertrag' auf Wechselseitigkeit bedeutet, es zumindest aber sollte.

Wildtiere leben noch mehr in einer Ordnung der Natur, die uns oft grausam vorkommen mag, aber da würde ich dann auf lange Sicht wieder das Argument der menschlichen Ungeschicklichkeit ins Spiel bringen, wenn man meint hier verbessern zu müssen. Punktuell wiegt es sicher weniger schwer, wenn man den Kojoten verjagt, ist das weniger gravierend, als wenn Veränderungen im großen Stil initiiert. Das Reh erscheint uns niedlich, der Kojote nicht, aber das sind dann wieder unsere Projektionen, leben wollen beide, Nahrung brauchen beide.

In dem Beispiel scheint mir Hilfe für das Reh nicht zwingend, da auch Raubtiere fressen müssen, etwas anderes ist es, wenn wir ein verletztes Tier finden ... wenn wir helfen können, sollten wir helfen oder Hilfe organisieren. (Eine weitere Frage ist, inwieweit wir Rehe überhaupt noch als Wildtiere bezeichnen können.)
 
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Für domestizierte Tiere haben wir m.E. eine größere Verantwortung, da die Domestikation ja schon einen ' Vertrag' auf Wechselseitigkeit bedeutet, es zumindest aber sollte.

Diese Position beschreibt auch Palmer ausführlich in ihrem Text. Unplausibel ist dieser Ansatz keinesfalls: Er fokussiert darauf, dass es nicht zuletzt um die besonderen Beziehungen zwischen Mensch und Tier geht. Die Pferde frieren - und diese Pferde sind im Besitz eines Menschen, der seiner besonderen Verantwortung nicht nachkommt. Die Pferde existieren wegen des Menschen - er hat sie gezüchtet, und er hat sie im besonderen mit kürzerem Fell gezüchtet. All das spielt rein, so diese Position, und deswegen haben wir den Pferden gegenüber größere Verantwortung als gegenüber den Rehen. Soweit so klar, aber die Konsequenz dieses Ansatz hat es schon auch in sich, denn er besagt: Es geht im Grunde nicht um die Leidensfähigkeit von Tieren, sondern um die "historische Verflechtung" zwischen Mensch und Tier. Die Rehe leiden an der Kälte ja auch. Und noch komplizierter: Können wir so tun, als wären Rehe wilde Tiere in einer völligen Wildnis, wenn beispielsweise der Klimawandel dafür sorgt, dass sie in völlig anderen Begebenheiten leben müssen?

Mit all dem widerspreche ich mit keiner Silbe dem, was Du geschrieben hast. Ich nahm nur das Zitat zum Anlass näher zu erläutern, was Palmer diskutiert.
 
"Wir" haben keine Verantwortung. Der einzelne verantwortet sich vor seinem Gewissen.
Ich habe noch nie ein Pferd gezüchtet.

Diesen Punkt spricht Palmer auch an, quasi: Wie kommt denn die Wanderin dazu, die Verantwortung für den Pferdebesitzer zu übernehmer? Die frierenden Pferde sind ja nicht ihre Schuld. Sie kommt nur zufällig vorbei. Ganz so easy wie Du es beantwortest ist es aber meines Erachtens nicht. Gehen wir zum berühmten Teichbeispiel von Peter Singer über: Ein Kind droht in einem Teich zu ertrinken. Ein Unbeteiligter kommt zufällig vorbei. Kann er sagen: "Ist ja nicht mein Kind! Ich hab kein Kind gezeugt! Wo sind die verdammten Eltern! Es ist deren Zuständigkeit!" ? Wohl eher nicht, oder?
 
All das spielt rein, so diese Position, und deswegen haben wir den Pferden gegenüber größere Verantwortung als gegenüber den Rehen. Soweit so klar, aber die Konsequenz dieses Ansatz hat es schon auch in sich, denn er besagt: Es geht im Grunde nicht um die Leidensfähigkeit von Tieren, sondern um die "historische Verflechtung" zwischen Mensch und Tier.
Da bin ich buddhistisch: Man muss dem Leid nicht hinterher reisen, sondern man findet es überall und ist dann auch aufgefordert zu handeln, mindestens aber zur Entscheidung. Im Fall von Futter und Wasser würde ich die Wildtiere mit durchziehen. Aber das Leiden wäre schon weiter das Leitmotiv, die historische Verflechtung ist in meinen Augen allenfalls eine weitere Komponente.
Und noch komplizierter: Können wir so tun, als wären Rehe wilde Tiere in einer völligen Wildnis, wenn beispielsweise der Klimawandel dafür sorgt, dass sie in völlig anderen Begebenheiten leben müssen?
Das meinte ich mit der letzten Bemerkung in Klammern.
Aber die generalisierte Verantwortung wächst uns schnell über den Kopf, da ist nun der phil. Diskurs etwas anderes, als die Strategie einer praktischen Umsetzung, aber man kann beides auch nicht völlig trennen.
Also mit Blick auf das Anthropozän können wir erkennen, dass unsere Verantwortung gewaltig ist, die Umsetzung sollte jedoch den Möglichkeiten entsprechend geschehen, da ist eine Entwicklung des Bewusstseins ein zentraler Punkt, daher sind phil. Diskurse eminent wichtig.
 
Aber das Leiden wäre schon weiter das Leitmotiv, die historische Verflechtung ist in meinen Augen allenfalls eine weitere Komponente.
Gehen wir zum berühmten Teichbeispiel von Peter Singer über: Ein Kind droht in einem Teich zu ertrinken. Ein Unbeteiligter kommt zufällig vorbei. Kann er sagen: "Ist ja nicht mein Kind! Ich hab kein Kind gezeugt! Wo sind die verdammten Eltern! Es ist deren Zuständigkeit!" ? Wohl eher nicht, oder?
Daraus ergibt sich m.E. (wobei Peter Singer, naja), dass unser Zeugesein einer Situation der potentielle Auslöser ist, nicht ob wir nun die Verursacher der Situation sind, im Sinne der Herbeiführung, Zeugung oder historischen Verflechtung.
Moral und Ethik beziehen sich ja ganz generell auf die Frage, wie wir mit dem anderen umgehen sollten, jedenfalls nach meinem Verständnis. Sein Leid achselzuckend zu ignorieren ist schwer zu legitimieren.
 
Ganz so easy wie Du es beantwortest ist es aber meines Erachtens nicht.
Es ist einfach ausgesprochen in Übereinstimmung mit seinem Gewissen in jeweiligen Situationen handeln zu wollen.
Es ist das Schwerste je danach einzeln zu handeln.


Ein Kind droht in einem Teich zu ertrinken. Ein Unbeteiligter kommt zufällig vorbei. Kann er sagen: "Ist ja nicht mein Kind! Ich hab kein Kind gezeugt! Wo sind die verdammten Eltern! Es ist deren Zuständigkeit!" ? Wohl eher nicht, oder?

Ich denke, der meisten Menschen Gewissen wird sie dazu hinführen, dass Kind zu retten, ohne erstmal darüber nachzudenken, welche ethische Theorie denn nun für welche Art der Handlung in dieser Situation gelte (und das Kind in dieser Zeit möglicherweise untergangen wäre.)
 
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Ich denke, der meisten Menschen Gewissen wird sie dazu hinführen, dass Kind zu retten, ohne erstmal darüber nachzudenken, welche ethische Theorie denn nun für welche Art der Handlung in dieser Situation gelte (und das Kind in dieser Zeit untergangen wäre.)

Meine Studierenden antworten auch oft in dieser Art und Weise: "Aber da würde ich doch ohne nachzudenken X tun." Natürlich. Aber darum geht es ja in der Ethik nicht. So zumindest mein Verständnis.

Ethik ist das Nachdenken über die Moral, sprich das kritische Reflektieren und Begründen von dem, was man vielleicht in bestimmten Situationen im guten wie im schlechten spontan macht. Extrembeispiele wie jenes mit dem Teich untersuchen demnach eben nicht, wie man spontan handelt. Das ist Aufgabe der Psychologie. Sondern man diskutiert, wie man in dieser Situation handeln soll - und warum.

So zumindest mein Ethikverständnis.
 
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