Kann man Israel kritisieren, ohne als Antisemit punziert zu werden?
Diese Frage wurde in diesem Forum schon mehrmals gestellt, und von etlichen Diskutanten
auch mit einem überzeugten "JA, selbstverständlich" beantwortet.
Ich mache kein Hehl daraus, dass ich zu jenen Personen gehöre, die diese Frage mit NEIN
beantworten, und freue mich deshalb, für meine Einschätzung nun auch eine Bestätigung von
gänzlich unverdächtiger Seite erhalten zu haben.
In dem Buch "Unser Jahrhundert" (ISBN 978 3 406 60132 3; Verlag C. H. Beck; München 2010)
werden Gespräche über politische Verhältnisse im 20. Jahrhundert veröffentlicht,
die in den Jahren 2008 und 2009 zwischen
Fritz Stern (in Amerika lebender jüdischer Historiker deutscher Abstammung)
und Helmut Schmidt (SPD-Politiker, Verteidigungsminister, später Bundeskanzler,
der anlässlich seiner Vermählung 1942 nur mittels einer kleinen Ungenauigkeit
einen Ariernachweis erbringen konnte) geführt wurden.
Darin findet sich u.a. ab Seite 46 folgender Dialog
(Hervorhebungen durch Fettdruck von mir):
[...]
Schmidt:
Das zweite, was ich sagen will: Wir können wahrscheinlich nicht umhin,
im Laufe unseres Gespräches uns auch mit Israel zu beschäftigen.
Das ist ein kitzliges Thema.
Ein Einstieg in dieses Thema wäre Ihre Bemerkung über die fast bedingungslose Unterstützung
der israelischen Machtpolitik durch die sogenannten Neokonservativen in den Vereinigten Staaten,
die schwer zu verstehen ist.
Eigentlich gibt es in der amerikanischen Geschichte bis in die 1930er Jahre keinen Hinweis darauf,
dass Amerika sein eigenes Schicksal verbinden würde mit diesem kleinen jüdischen Staat im Nahen Osten.
Das hat es getan als Reaktion auf Hitlers Holocaust. Das ist verständlich.
Aber dass es dann ins Extrem gegangen ist - "right or wrong, my Israel" - das ist eine erstaunliche,
für mich schlecht zu erklärende Entwicklung.
Stern:
Ich will hier ganz deutlich sagen, dass ich die Neokonservativen für die eigentlichen Totengräber
Israels halte. Sie glaubten, das Gegenteil zu sein, aber durch ihre bedingungslose Unterstützung
der israelischen Militärpolitik haben sie erheblich zur Isolation Israels beigetragen.
Schmidt:
Ich hätte das Thema gerne noch ein wenig zurückgestellt.
Wir müssen natürlich auch zu sprechen kommen auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel.
Stern:
Ja, aber auch auf das Verhältnis zwischen Amerika und Israel,
und zwar nicht nur mit Blick auf die Neokonservativen.
Kaum jemand in Amerika konnte sich bis vor Kurzem Kritik an Israel erlauben.
Eine offenere Debatte fängt erst jetzt an - insofern bin ich etwas optimistischer geworden.
Es gibt jetzt eine neue Organisation von vernünftigen jüdischen und auch nichtjüdischen Kräften,
die versucht, eine neue Linie zu entwickeln.
Im Ganzen kann man sagen, die amerikanischen Juden sind in der Mehrheit ziemlich vernünftig
und gehören nicht zu denjenigen, die jegliche israelische Politik unterstützen.
Aber die Minderheit ist so gut organisiert und so reich und so ideologisch fanatisiert,
dass sie eben eine ganz große Rolle spielt.
Das sind jüdische Gruppen, die nicht notwendigerweise neokonservativ sind,
wenn auch Likud-nahe, die sich aber besonders stark mit Israel identifizieren
und glauben, dass jegliche Kritik unerlaubt ist.
In Amerika ist es sehr viel schwieriger, kritisch über Israel zu reden, als in Israel.
Die israelische Presse, die israelische Öffentlichkeit, ist viel offener als mein Land,
wo Kritik an Israel schnell als Antisemitismus gilt.
Es ist noch schlimmer als in Deutschland, glaube ich.
Schmidt:
Es ist in Deutschland auch ziemlich schlimm.
Auch hier wagt kaum einer Kritik an Israel zu üben aus Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus.
Stern:
Amerika ist durch die political correctness manchmal wie gelähmt.
Am Anfang war es noch anders, da gab es eine ehrliche Sympathie für Israel nach dem Holocaust
und ein Gefühl der Verantwortung, und die Vereinigten Staaten waren die erste Nation,
die den Staat Israel anerkannt hat.
Vielleicht auch bewusste oder unbewusste Schuldgefühle:
Man hätte mehr für die verfolgten Juden tun können.
Dann wurde die Macht der amerikanischen Juden immer stärker,
die gerade bei Wahlen eine wichtige Rolle spielen.
Schmidt:
Auch in der Publizistik eine wichtige Rolle spielen.
Stern:
Das ist richtig, aber von geringerer Bedeutung.
Den größten Einfluss üben die Organisationen aus, die sich bei Wahlen einsetzen,
AIPAC zum Beispiel - American Israel Public Affairs Committee.
Die haben von Anfang an eine rechtsradikale Position eingenommen,
sind auf den amerikanischen Populismus zugesteuert und haben eine enge Verbindung
geschaffen zwischen rechts stehenden Amerikanern und Israel.
Aber auch für Demokraten im Kongress ist es kaum möglich,
sich in irgendeiner Weise kritisch zu Israel zu äußern.
Ich erinnere mich noch genau, wie John Kerry in einer Rede bei den letzen Vorwahlen
sagte, man müsse "even balanced" sein in Sachen Naher Osten. Da brach ein Sturm los.
Ich wurde gefragt, was ich davon halte. Das sei sehr vernünftig, habe ich gesagt.
Wenn Amerika Einfluss haben will, muss es "even handed" sein,
nicht "even balanced" - "even handed", nach beiden Seiten gerecht.
Aber die Stärke und die Empfindlichkeit eines Großteils der amerikanischen Juden,
der organisiert ist, reichen sehr weit.
Füŕ die gibt es nur, wie Sie schon gesagt haben: right or wrong, my Israel.
Meine Einstellung dem gegenüber lautet:
Warum sollte ich nicht ebenso kritisch über Israels Politik denken und sprechen dürfen
wie einige maßgebende Israelis selber.
Nur weil ich in New York wohne und nicht in Jerusalem?
Schmidt:
Sie sehen, wie heikel das Thema ist.
Stern:
Und wie! Für das, was ich eben gesagt habe,
würde ich in Amerika in manchen Kreisen als antisemitisch bezeichnet werden.
[...]
Das musste auch einmal in aller Klarheit gesagt werden.