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Kalil Gibran - Der Prophet

Haiku

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20. Mai 2003
Beiträge
264
Eure Kinder sind nicht eure Kinder.

Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.

Sie kommen durch euch,
aber nicht von euch.

Und obwohl sie mit euch sind,
gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
aber nicht eure Gedanken.

Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
aber nicht ihren Seelen.

Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.

Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen,
von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und Er spannt euch mit seiner Macht,
damit Seine Pfeile schnell und weit fliegen.

Lasst euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein.

Denn so, wie Er den Pfeil liebt, der fliegt,
so liebt Er auch den Bogen, der fest ist.

aus: Kalil Ghibran, Der Prophet




Dies ist wohl ein weit verbreiteter Satz aus diesem kleinen Buch, das seit 30 Jahren stetig beliebt war und ist!
Meine Frau brachte dieses Zitat dazu, mir den schmalen Band zu kaufen, obwohl "diese Art von Literatur" von mir eher nicht gelesen wird (religiöse Sprüche und Weisheiten - zumindest dachte ich, dass dies so ein Buch wäre)!
Weit gefehlt! Es ist eine Fundgrube tiefsinniger Beobachtungen! Der Autor nimmt gefangen und führt einen in eine andere Welt, die Welt eines Wartenden, der auserwählt ist, den Menschen Antworten zu bringen, die sie bereits in sich tragen!

Es ist keine große Philosophie, kein bahnbrechendes Werk, aber ein Kleinod der Gedanken!
 
Zuletzt bearbeitet:
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Texte von Khalil Gibran

Guten Morgen Haiku!

Auch ich bin ein Freund und Verehrer von Khalil Gibran, deshalb möchte ich einen weiteren Text anfügen.


DIE SCHÖPFUNG

Gott trennte einen Teil seines Wesens von sich ab, stattete die neue Schöpfung mit Schönheit aus und segnete sie mit Güte und Freundlichkeit.

Dann reichte er ihr den Kelch der Glückseligkeit und sprach: „Trinke aus diesem Kelch nur dann, wenn du Vergangenheit und Zukunft vergessen hast, denn das Glück ist ein Produkt des Augenblicks.“

Und er reichte ihr den Kelch der Trauer und sprach: „Wenn du aus diesem Kelch trinkst, wirst du begreifen, warum die Freuden des Lebens so schnell vergehen, die Trauer jedoch im Überfluß vorhanden ist.“

Und Gott verlieh ihr die Liebe, die sie beim ersten Seufzer der Zufriedenheit für immer verlassen würde, und er schenkte ihr die Anmut, die beim geringsten Anzeichen von Schmeichelei schwinden sollte.

Er schenkte ihr die Weisheit des Himmels, um sie auf den rechten Weg zu führen, und in die Tiefe ihres Herzens setzte er ein Auge, um es ihr zu ermöglichen, auch das Unsichtbare zu sehen; und er weckte in ihr eine leidenschaftliche Hingabe an alle Dinge.

Er kleidete sie in das Gewand der Hoffnung, das die Engel aus den Streifen des Regenbogens gefertigt hatten; und er hüllte sie in den dunklen Mantel der Verwirrung, der den Dämmerzustand des Lebens und des Lichtes hervorruft.

Dann nahm Gott das verzehrende Feuer aus dem Schmelzofen des Zorns, den sengenden Wind aus der Wüste der Unwissenheit, rauhen Sand von der Küste der Sehnsucht und grobe Erde, die unter dem Fuß der Zeit lag – all dies mengte er zusammen und erschuf den Menschen.

Er verlieh ihm eine blinde Kraft, die wütet und in den Wahnsinn treibt und erst nach der Erfüllung eines Wunsches erlischt. Und er erweckte das Leben im Menschen mit der Vielfalt des Todes.

Und Gott lächelte und weinte. Er fühlte eine überströmende Liebe für den Menschen und gleichzeitig Erbarmen – und deshalb stellte er ihn unter seinen Schutz.

Quelle: Khalil Gibran „Gib mir die Flöte und laß mich singen“

MfG
Jan Amos
 
Lied des Menschen

Lied des Menschen

Seit Anbeginn war ich,
und ich bin.
Ich werde sein
bis zum Ende der Zeiten,
denn ich bin ohne Ende.

Ich schwebte im Raum der Unendlichkeit
Und in den Welten der Fantasie;
ich näherte mich dem Lichtkreis.
Doch nun bin ich ein Gefangener der Materie.

Ich lauschte den Lehren des Konfuzius
und der Weisheit des Brahma.
Ich setzte mich neben Buddha
unter den Baum der Erkenntnis.
Doch nun ringe ich mit Unwissen und Unglauben.

Ich war auf dem Sinai,
als der Herr dem Moses erschien;
am Jordanufer war ich Zeuge
der Wunder des Nazaräers,
und in Medina hörte ich die Worte
des Propheten der Araber.
Doch siehe, nun bin ich ein Opfer des Zweifels.

Ich erlebte Babylons Macht,
Ägyptens Ruhm
und die Größe Griechenlands.
Und nun erblicke ich weit und breit
die Schwäche und Niedrigkeit
aller menschlichen Taten.

Ich setzte mich zusammen
mit den Magiern von Endor,
mit den Priestern Assyriens
und den Propheten Palästinas,
und ich hörte nicht auf,
die Wahrheit zu suchen.

Ich befolgte die Weisheit Indiens,
lernte die Poesie auswendig,
die aus dem Herzen der Araber stammt,
und ich lauschte der Musik
der Völker des Westens.

Doch nun bin ich blind
und kann nicht mehr sehen,
bin taub und vermag nicht mehr
zu hören.

Ich ertrug die Grausamkeit
unersättlicher Eroberer,
litt unter der Ungerechtigkeit
und Willkür der Mächtigen
und ertrug die Knechtschaft
der Tyrannen.
Nun bin ich stark genug,
um mit den Tagen zu kämpfen.

All dies hörte und sah ich
als ich noch Kind war.
Ich sehe und höre nun
die Werke der Jugend.
Dann werde ich alt
und vollkommen werden,
und ich werde zu Gott zurückkehren.

Seit Anbeginn war ich,
und ich bin.
Ich werde sein
bis zum Ende der Zeiten,
denn ich bin ohne Ende.


Aus Khalil Gibran, Eine Träne und ein Lächeln
 
Damit Gibran hier nicht in Vergessenheit gerät,

..... ein weiterer Text:

Gestern - heute - morgen

Ich sprach zu meinem Freund: "Siehst du, wie sie sich an seinen Arm lehnt? Gestern noch lehnte sie sich an meinen."
Und er sagte: "Und morgen wird sie sich an meinen lehnen."
Und ich sprach: "Schau wie sie an seiner Seite sitzt;
Gestern noch saß sie an meiner."
Und er sagte: "Und morgen wird sie an meiner Seite sitzen."
Und ich sprach: "Siehst du nicht, wie sie aus seinem Becher trinkt? Noch gestern trank sie aus dem meinem."
Und er sagte: "Und morgen wird es meiner sein."
Und ich sprach: "Sieh wie sie ihn mit Augen voll Liebe anblickt! Mit solchen Augen blickte sie gestern mich an."
Und er sagte: "Und morgen wird sie mich ebenso ansehen."
Und ich sprach: "Hör nur, wie sie ihm Liebeslieder ins Ohr flüstert. Gestern flüsterte sie dieselben Lieder mir ins Ohr."
Und er sagte: "Und sie wird sie morgen in meines flüstern."
Und ich sprach: "Schau wie sie ihn umarmt; gestern noch umarmte sie mich."
Und er sagte: "Morgen wird sie mich umarmen."
Und ich sprach: "Was für eine sonderbare Frau sie doch ist!"
Und er sagte: "Sie ist das Leben."

(Aus Die Söhne der Göttin)
 
Zum Wochenende und aus aktuellem Anlass:

Von der Freundschaft

Euer Freund ist die Antwort auf eure Nöte
Er ist das Feld, das ihr mit Liebe besät
und mit Dankbarkeit erntet.
Und er ist euer Tisch und euer Herd
Denn ihr kommt zu ihm mit eurem Hunger,
und ihr sucht euren Frieden bei ihm.
Wenn euer Freund frei heraus spricht,
fürchtet ihr weder das "Nein" in euren Gedanken,
noch haltet ihr mit dem "Ja" zurück.
Und wenn er schweigt,
hört euer Herz nicht auf,
dem seinen zu lauschen;
Denn in der Freundschaft werden
alle Gedanken, alle Wünsche, alle Erwartungen
ohne Worte geboren und geteilt,
mit Freude, die keinen Beifall braucht.
Wenn ihr von eurem Freund weggeht, trauert ihr nicht:
Denn was ihr am meisten an ihm liebt,
ist vielleicht in seiner Abwesenheit klarer,
wie der Berg dem Bergsteiger von der Ebene aus klarer erscheint.
Und die Freundschaft soll kein anderen Zweck haben,
als den Geist zu vertiefen.
Und laßt euer Bestes für euren Freund sein.
Wenn er die Ebbe eurer Gezeiten kennen muß,
laßt ihn auch das Hochwasser kennen.
Denn was ist ein Freund, wenn ihr ihn nur aufsucht,
um die Stunden todzuschlagen?
Sucht ihn auf, um die Stunden mit ihm zu erleben.
Denn er ist da, eure Bedürfnisse zu befriedigen
nicht aber eure Leere auszufüllen.
Und in der Süße des Freundschaft laßt Lachen sein
und geteilte Freude.
Denn im Tau kleiner Dinge
findet das Herz seinen Morgen und wird erfrischt.

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Ein Mann sprach zu einem anderen:

Vor langer Zeit schrieb ich mit der Spitze meines Stabs
eine Zeile in den Sand - als die Flut kam;
und die Menschen bleiben immer noch stehen,
um die Worte zu lesen, und sie achten darauf,
daß sie nicht verwischt werden.

Und der andere Mann sprach:
Auch ich schrieb eine Zeile in den Sand,
doch zur Zeit der Ebbe; und eine Woge der rauhen See
spülte sie fort. Aber sage mir, was hast Du geschrieben?

Und der erste Mann antwortete, indem er sprach:
Dies: Ich bin der, der ist. Und wie lauteten deine Worte?

Der andere sprach: Ich schrieb
Ich bin nur ein Tropfen dieses weiten Ozeans.


In diesem Sinne wünsche ich allen ein schönes Wochenende!

Britt
 
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Tau auf meiner Seele

Vor fünf Jahren habe ich ein Heft mit ausgewählten Zitaten von Khalil Gibran erstellt, das ich gern, bei einer geeigneten Gelegenheit, an Freunde verschenke.

Der Titel lautet:
Die Worte meines besonderen Freundes Khalil Gibran sind Tau auf meiner Seele.

Zum Geleit habe ich geschrieben:

„Ich glaube, daß es überall auf der Welt Gruppen und Individuen gibt, die verwandt sind - ungeachtet ihrer Rasse und Herkunft. Sie gehören zu dem gleichen Bereich des Bewußtseins. Das ist Verwandtschaft - nur dies.“

Mit dieser Aussage von Khalil Gibran begrüße ich Dich, meine liebe Leserin und lieber Leser und möchte Dir mit einer kleinen Auswahl von Zitaten und Aphorismen, die uns der große und edle im Libanon geborene Geist hinterlassen hat, eine Freude bereiten.

Barbara Young schreibt in der Biographie über Gibran:
„Khalil Gibran, der unsterbliche Autor des Meisterwerkes „Der Prophet“, wird einmal zu den größten Dichtern des 20. Jahrhunderts gezählt werden. Seine mystische Poesie, erfüllt vom Zauber einer allmählich untergehenden morgenländischen Weisheitstradition, wird unvergänglich bleiben.
„Worte sind zeitlos.“ Du solltest sie in dem Wissen um ihre Zeitlosigkeit aussprechen oder niederschreiben.“ Diese Zeile definiert vielleicht, wenn sich überhaupt eine Zeile der Definition finden läßt, das umfassende Bewußtsein dieses Mystikers hinsichtlich der Kraft und der Sinnhaftigkeit menschlicher Sprache. Die Darstellung der alten Weisheiten, die Wirklichkeit betreffend, ist von einfachster Form, dem Glauben Ausdruck verleihend, dass „wir einander solange nicht verstehen werden, bis die Sprache nur noch sieben Worte umfaßt“.

Er sagt: „Die wichtigsten Worte sind Du und Ich – ohne diese zwei gäbe es keinen Grund für weitere. Wir müssen sein, und wir müssen nehmen.“ Dann sagte er leise, fast wie ein Hauch: „Das sind meine sieben Worte: Ich, Du, nehmen, Gott, Liebe, Schönheit, Erde.“

Alles ist in ihnen enthalten – alles, das ganze Leben, alles vom Tod als Teil des Lebens, die Ewigkeit, die Gott ist.




Die Sklaverei

Ich begleitete die Jahrhunderte von den Ufern des Ganges an die Strände des Euphrat, von der Mündung des Nils in die Ebenen Assyriens; von den Kampfplätzen Athens zu den Kirchen Roms, von den Armenvierteln Konstantinopels zu den Plätzen von Alexandria . . . und doch sah ich, wie über allem die Sklaverei hinzog in einer glorreichen und majestätischen Prozession der Unwissenheit.
Ich sah, wie die Menschen Jünglinge und Mädchen zu Füßen eines Götzenbildes opferten, und sie nannten es Gott. Wein und Parfüm gossen sie über die Füße des Standbildes, und sie nannten es Königin. Weihrauch verbrannten sie vor dem Abbild des Götzen, und sie nannten es einen Propheten. Sie knieten vor dem Götzen und beteten ihn an, und sie nannten ihn das Gesetz. Sie kämpften und starben für ihr Idol, und sie nannten es Vaterlandsliebe.

Sie unterwarfen sich dem Willen des Götzen, und sie nannten ihn den Schatten Gottes auf Erden. Häuser und Stiftungen wurden zerstört und demoliert, und sie nannten es Brüderlichkeit; sie kämpften, stahlen und arbeiteten für ihr Idol, und sie nannten es Erfolg und Glückseligkeit. Sie töteten um ihres Idoles Willen, und sie nannten es Ewigkeit.

Der Götze besitzt viele Namen, aber nur eine Wirklichkeit. Er hat viele Erscheinungsformen und ist doch aus einem Grundstoff.
In Wahrheit ist er eine ständige Plage, die von einer Generation an die nächste vererbt wird.
Man hat mir gesagt, wenn du einen schlafenden Sklaven findest, so wecke ihn auf, er träumt vielleicht von der Freiheit.
Ich aber gab zur Antwort: wenn du einen schlafenden Sklaven siehst, so wecke ihn und erkläre ihm, was Freiheit ist.

(Khalil Gibran: Das Reich der Ideen)


Liebe Freunde und Freundinnen,
diese Gedanken - meines verehrten Freundes - sind mein Wort zum Sonntag.

MfG Jan Amos
 
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