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Die Frau am Fenster

Sunnyboy

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10. März 2005
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542
Die Frau am Fenster

Seit zwei Stunden starrt meine Frau nun schon aus dem Fenster und beobachtet die Menschen, die an diesem schönen Frühlingstag auf den Straßen flanieren.
Sie redet nicht mit mir. Sie ignoriert mich. Seit nunmehr drei Monaten. Sie hasst mich.
Selbst unsere Katze, Petite, kann diesen Hass spüren: ihre Haare sträuben sich, während sie mit ängstlichen Augen meine Frau beobachtet, die immer noch am Fenster steht und auf die Straße starrt.
Und das alles wegen dieser Sache mit diesem Jean-Pierre Lacroix.

Folgendes war geschehen:

Meine Frau und ich waren in Straßburg gewesen um dort einen alten Geschäftsfreund zu besuchen. Dies war aber nicht der einzige Grund: Straßburg ist auch die Heimatstadt meiner Frau, hier hatte sie die ersten 20 Jahre ihres Lebens verbracht, ehe sie mich heiratete und zu mir nach Paris zog. Sie selbst ist wohl nie recht glücklich gewesen, mit der Hochzeit, doch ihr Vater war der Ansicht, dass ich genau der richtige Ehemann für sie sei.
Womit er, wie ich meine, auch absolut Recht hatte: immerhin gehört mir eines der besten Tuchhandelunternehmen in ganz Frankreich mit Verbindungen zu den hervorragendsten Tuchmachern in England und Flandern. Ich konnte nicht begreifen, dass sie so unglücklich mit mir war. Sie hat alles, was jede Frau sich wünscht:
teures Silbergeschirr, Tischdecken aus feinstem Tuch, eine riesige Eigentumswohnung in Paris und ein Dienstmädchen. Sie muss keinen einzigen Finger im Haushalt rühren und braucht auch nicht die Wohnung zu verlassen, um irgendwelche Einkäufe zu erledigen.

Wir waren also in Straßburg. Wir hatten bei meinem Freund und seiner Frau ganz vorzüglich gegessen (hervorragenden Fisch, ein delikater Lachs aus Norwegen, dazu einen exquisiten Weißwein, einen Chardonnay) und beschlossen uns die herrliche Straßburger Innenstadt anzusehen.
Wir spazierten gemütlich durch die Stadt und waren alle recht vergnügt, bis auf meine Frau, die lustlos neben mir herging, ihren Blick stets auf die Pflastersteine auf der Straße gerichtet.
Da es dunkel wurde, entschlossen wir uns zurück zum Haus meines Freundes zu gehen und uns langsam ins Bett zu begeben.
Als wir schon fast das Haus meines Freundes erreicht hatten, kam dieser Kerl um die Ecke. Er war ein typischer Arbeiter, ein verschmutzter Proletarier.
Dieser ungehobelte Kerl wich nicht aus, als er uns sah sondern ging genau auf uns zu, und stieß schließlich mit meiner Frau zusammen, die ihre Handtasche verlor.
„Pass doch auf, du verkommenes Subjekt!“, rief ich.
Dieser Kerl tat so, als ob dieser Zusammenstoß ein Versehen gewesen wäre, entschuldigte sich und half meiner Frau die Tasche aufzuheben. Dabei warf er ihr einen Blick zu, der von ekelhafter Begierde erfüllt war, ein Blick die gewöhnliche Bürger ihren Herzensdamen zuwerfen, ein Blick, der so vertraulich ist und jegliche Form von gesellschaftlichem Anstand vermissen lässt.
Und für einen Moment schien es so, als ob meine Frau ein gewisses Glänzen in ihren Augen hatte.


Als er ihr die Tasche gegeben hatte ging dieser widerliche Mann weiter, jedoch nicht, ohne meiner Frau noch ein paar seiner ekelerregenden Blicke zuzuwerfen.

Als wir wieder bei meinem Freund waren wollte ich mich vergewissern, ob das Geld, welches ich meiner Frau als Taschengeld anvertraut hatte noch da war, oder ob dieser proletarische Strauchdieb es entwendet hatte.
Das Geld war noch da. Aber da befand sich noch etwas in der Tasche: ein Zettel.
Ich faltete ihn auseinander und las:

„Liebe Isabelle,
ich kann unsere Nacht nicht vergessen. Endlich, nach so vielen Jahren, haben wir zwei wieder zueinander gefunden. Schon seit damals, als wir uns auf dem Marktplatz begegneten, war mein Herz zu dir entflammt.
Doch du wurdest mir weggenommen, des bloßen Geldes wegen. Deine Eltern waren ja der Ansicht, ich sei keine „gute Partie“.
Du wurdest an einen Anderen, Reicheren verheiratet.
Ich weiß, ich kann dir keinen Reichtum geben, außer dem in meinem Herzen, doch ich bitte dich, komm zu mir, verlass den Mann den du nicht liebst. Komm wieder zu mir.
Oder lass mich dich befreien, so wie ein Ritter sein Burgfräulein aus den Händen des Drachen. Ja, eines Tages werde ich angeritten kommen, auf einem weißen Pferd, und ich werde den Drachen besiegen und mit dir fliehen, in das Land der Liebe und der Magie.
Warte auf mich, bis ich unter deinem Fenster vorbeireite. Dann spring, spring auf den Rücken meines Pferdes und reite mit mir davon.
Bis dahin, tausend Küsse,
dein dich liebender
Jean-Pierre Lacroix“



In mir kochte das Blut. Ich wartete, bis meine Frau das Schlafzimmer betrat. Dann zog ich meinen Gürtel aus und prügelte auf diese untreue Dirne ein, schrie sie an, sie solle mir alles erzählen. Und sie erzählte mir alles, so lebhaft, so trotzig, wie sie mir nie zuvor etwas erzählt hatte, schleuderte sie mir die Wahrheit entgegen.
Wie sie sich heimlich getroffen hatten, Lacroix und sie, während ich mit meinem Freund unten im Speisezimmer Karten spielte, wie sie das erste mal richtig gespürt hatte was Liebe ist.
Sie schrie mich an, dass sie, seit sie 14 war, nur Lacroix geliebt hatte, dass er weiß wie man eine Frau richtig behandelt und dass sie mich verabscheut. Dann sagte sie gar nichts mehr. Sie lag nur weinend auf dem Bett.

Ich konnte das nicht auf mir sitzen lassen. Ich fragte meinen Freund, ob es möglich wäre, meinen Aufenthalt bei ihm zu verlängern, ich hätte noch etwas geschäftliches zu erledigen. Mein Freund sagte ja.
Ich hatte tatsächlich etwas geschäftliches zu erledigen und mein Geschäftspartner hieß:
Lacroix. Diese Schmach, die dieser widerliche Kerl mir angetan hatte, musste wieder gut gemacht werden.
Durch Kontakte in Straßburg fand ich heraus wo er wohnte.
Dann machte ich erneut von meinen Kontakten, dieses Mal in den etwas tieferen Gesellschaftsschichten Gebrauch: ich kannte da zwei Leute, zwei ziemlich üble Gestalten, denen man nachts nicht gerne über den Weg läuft...
Lacroix hatte das Vergnügen, ihnen nachts über dem Weg zu laufen. Oder besser noch:
sie liefen ihm eines nachts über den Weg...

Als wir uns auf den Rückweg machten, war ich bester Dinge:
ich hatte exquisit gegessen und getrunken und die wundervolle Umgebung genossen.
Was Lacroix anging: dieser widerliche proletarische Frauenschänder lag jetzt mit einem Messer im Rücken irgendwo in einem Straßengraben vor den Toren von Straßburg.
Es ist wirklich nicht schade um solche verkommenen Subjekte.
So habe ich es auch meiner Frau gesagt. Sie hat mich nur hasserfüllt angestarrt.
Aber ich werde ihr schon beibringen mich mit Respekt zu behandeln. Schließlich sorge ich gut für sie.

Das alles ist jetzt drei Monate her. Tag für Tag starrt meine Frau aus dem Fenster auf die Straße, so, als ob sie auf ihren Ritter Lacroix wartet.
Ich horche auf: meine Frau flüstert etwas.
„Der Ritter mit dem weißen Pferd!“ Jetzt steigt sie auf die Brüstung vor dem Fenster.
Mein Gott, sie springt. Ich sehe wie meine Frau hinabstürzt.
Aus irgendeinem Grunde starre ich auf die Katze.
Ihre Fell ist immer noch gesträubt.
Doch jetzt erst merke ich es:
es ist nicht wegen meiner Frau. Es ist wegen mir.
 
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Dachte nach dem Lesen Deiner Erzählung zufällig an "Dreizehn Minuten Sonnenschein" aus dem Buch "Papierdünn" von Philip First. Die Geschichten ähneln sich leicht von der Thematik her.

Was mich etwas stört, ist die häufige Verwendung von "proletarisch". Das letzte Drittel scheint zudem etwas straff.

PS: Meiner Meinung nach das beste in diesem Forum seit "Solutio".

rock on,
fuel.
 
Genial!

man "muss" es zu Ende lesen...der Ehemann wurde etwas übertrieben egoistisch dargestellt, sodass man fast gezwungen wurde, sich von
Anfang an auf die Seite der "gepeinigten, fast schon unschuldigen"
Ehefrau zu stellen.

Die Story ist super...und ich kann sie mir gut in Bildern vorstellen.

Gruss
Lacu
 
Recht spannend zu lesen, Sunny boy. Die Story könnte auch "Die Läuterung eines Turbokapitalisten" heißen.

Liebe Grüße

Zeili
 
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