Eben, das sagt uns, dass der Erwachsenenkörper verzweifelt versucht, sich an diese widernatürliche Ernährung anzupassen, weil wir einfach nicht einsehen wollen, dass Milch Nahrung für Babies ist!
Als hätte ich es nicht geahnt, das eine solche Argumentation früher oder später nicht auftauchen würde!
Das Attribut "widernatürlich" legt nahe, dass es auch so etwas wie eine "natürliche" Ernährung des Menschen gäbe. Hin und wieder kann man eine solche Argumentation in (esoterischen) Publikationen finden: "XYZ ist die natürliche Ernährung des Menschen ..."
Da nicken dann viele ganz brav mit dem Köpfchen, das sie aber leider nicht benutzen, um sich doch einmal zu fragen, wie man die beiden Kernbegriffe "natürlich" und "Mensch" denn überhaupt definiert.
Definiert man den Menschen als
Homo Sapiens, dann reden wir über eine Spezies, die seit mindestens 200.000 Jahren in dieser Form existiert. Nach Ansicht des Anthropologen Richard Wrangham (13) hat der Homo Sapiens seine Entwicklung schon mit dem Garen von Nahrung begonnen. Der physiologische Aufbau des Körpers des Menschen stellt bereits eine Anpassung an gegarte Nahrung dar: Ein Gebiss von der Größe eines, zum Vergleich, nur wenige kg wiegenden Affen und die Tatsache, dass unsere Darmlänge nur 60% der Größe der z.B. eines Schimpansen (wenn er unsere Körpergröße hätte) aufweist, um nur zwei Belege für diese Auffassung zu nennen.
Die Verwendung des Feuers ist übrigens weit älter als der Homo Sapiens. Die ältesten, sicher datierbaren und nachweislich von Hominiden genutzten Feuerspuren sind knapp 750.000 Jahre alt und stammen noch von unserem Vorfahren
Homo Erectus. In der Nähe fand man gegarte Nahrungsreste.
Nur ist die Verwendung des Feuers nicht "natürlich", oder besser: Es ist einzig der Mensch, der Feuer verwendet und Nahrung gart. Und er ist an diese Art der Nahrung biologisch angepasst, er ist auf gegarte Nahrung angewiesen.
Von "natürlich" kann also bei der menschlichen Ernährung bereits im Kern nicht die Rede sein, jedenfalls dann nicht, wenn man "natürlich" als "wie Tiere leben" definiert.
Wenn man an der Ernährung des Menschen überhaupt etwas als "natürlich" ansehen will, dann am ehesten noch seine Zeit als Jäger und Sammler. Denn so hat er sich die längste Zeit ernährt, nämlich ca. 95% seiner Entwicklungsgeschichte.
Mit dieser Art der Ernährung besteht mehr allerdings mehr als die Hälfte der Nahrungsenergie aus
Fleisch, wie historische Berichte über Jäger & Sammlerkulturen nahelegen.
Das Problem des eiszeitlichen Jäger & Sammlers war vor allem: Fett und Kohlenhydrate, denn die waren knapp und nicht immer verfügbar. Fehlen sie, dann kommt es zum sog. Kaninchenhunger, einer Fehlernährung, die eine Gier nach Fett auslöst.
Ölsaaten gibt es hier kaum, allenfalls Nüsse, und die gibt's nicht immer. Wildtiere sind fettarm und speichern das Fett in den Knochen.
Der Steinzeitler hat also Knochen ausgekocht: Ein aufwändiges Unterfangen, denn die damaligen Tonwaren springen über dem Feuer. Man musste Kochsteine verwenden, was viel Brennstoff erfordert.(6)
Warum hat dann also der Mensch die Milchwirtschaft überhaupt betrieben, wenn er doch "natürlicherweise" laktoseintolerant war. Die Laktoseintoleranz tritt - im Wesentlichen - nur bei Frischmilch auf. Sauermilchprodukte, Dickmilch, Käse, werden i.A. vertragen, weil sie Laktase enthalten.
Ohne Kühlung sind letztere anzunehmenderweise der Normalzustand, Rohmilch "verdirbt" schnell.
Und sie ist fetthaltig. Ein Käse kann schon mal 60% Fett i.d.Tr. haben - und um das gings.
Die Laktosetoleranz stellt eine evolutionäre Anpassung an diese Entwicklung dar, wie andere Anpassungen vor ihr.
Abschließend möchte ich feststellen, dass der Begriff "natürlich" bezugnehmend auf den Menschen ohnehin wenig beschreibt, romatisierend ist. Warum wird er ausgerechnet im Zusammenhang mit der Ernährung immer wieder aufgetischt?
Andere, wesentliche Aspekte, die uns vom Tier unterscheiden stellen wir auch nicht in Frage. Wir leben in Klimazonen, die für uns nicht geschaffen waren, verwenden Werkzeuge und das Feuer, tragen Kleidung und leben in festen Häusern und trinken vergorene Fruchtsäfte.
Ist das alles etwa "natürlich"?
(6) Paul Freedman (Hg.)
Essen. Eine Kulturgeschichte des Geschmacks
Primus Verlag Darmstadt, 2007
(13) Richard Wrangham
Feuer fangen: Wie uns das Kochen zum Menschen machte – eine neue Theorie der menschlichen Evolution
Deutsche Verlagsanstalt, München, 2009