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Tagebuch

antje

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12. Februar 2005
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11
Dies sind Auszüge aus dem Tagebuch eines Spinners, der nicht weiß, daß seine Gedanken Verworrenheit, Trauer, Scham und Nörgelei ausdrücken. Das wissen nur seine Leser, die er ebenso wenig kennt wie die Normen dieser Welt.


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vom März 1978

Zur Zeit bereite ich meinen Abstieg vor. Ich streiche im Keller einen leerstehenden Raum mit heller Lackfarbe, ohne mich darum zu kümmern, ob die Lackfarbe die Bausubstanz schädigen könnte. Meines Bleibens in diesem Haus wird nicht ewig sein. Und nach mir?
Vor ein altes Vorrats-Regal hänge ich schwere, dunkelrote Samtdecken -, vor das Fensterchen den Rest einer bizarren Gardine. Ich stelle ein Bett hinein, ein fahrbares Tischchen, einen alten Schrank ..., und lege ein paar Decken für meine Hunde am Fußende des Bettes auf den Boden. Ein verstellbarer Gartenstuhl wird mit Lumpen gepolstert, ein Mini-Fernseher zur technischen Überprüfung gebracht, ein Öl-Radiator zum Heizen gekauft.

Sobald alles fertig ist, werde ich den Abstieg vollziehen. Was über mir passiert, bleibt denen überlassen, die dort außer mir noch wohnen. Ich werde ihre Trampeleien ertragen, ihr Gekreisch vor meinem Fensterchen und ihre Telefonate, die bei mir im Keller ankommen und die ich jeweils nach oben an den gewünschten Teilnehmer weiterleite. Möchte ich kontrollieren?

Bin ich ein Aussteiger? Nur ein Umsteiger? Ein Einsteiger in eine andere Welt? Ein Bergabsteiger, dessen Kniegelenke knacken und schmerzen? Ein Übersteiger über Kadaver und vergessene Mitmenschen?
 
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Vom Januar 1997

Das Auto habe ich abschleppen lassen -, bei diesen Temperaturen friert wohl auch Dieselbenzin ein. Ich verstehe nichts davon. Ich wäre sowieso nicht mehr gefahren, es ist mir zu glatt. Jetzt mache ich mich zu Fuß, per Straßenbahn und per Bus auf den Weg, und muß dann doch noch eine halbe Stunde durch die eisige Kälte laufen. Dabei friert die Mimik ein, was mir allerdings erwünschtes Alibi ist, nicht lächeln zu müssen. Der musculus orbitalis oris tut’s auch nicht mehr, also kein Morgengruß in die frierende Runde. Selbst die Pferde sind zu Eis erstarrt, was komisch aussieht. Jemand hatte sich um unsere beiden bereits gekümmert. Man hätte mich anrufen sollen. Es hätte mir diese Reise über den Nordpol erspart. Wäre es zuviel verlangt? Keine Ahnung. Nun bin ich ja hier, und der nächste Bus zurück fährt erst in zwei Stunden. Meine Finger sind blau geworden, ebenso sehen sicher die Zehen in den Schuhen aus. Ich denke, man hätte die Pferde nicht in der Reithalle toben lassen dürfen, denn sicherlich haben sie ähnlich blaue Zehen wie ich. Die blue-roan-Stute sowieso. Die ist – wie ihre Rasse-Bezeichnung sagt – ja an sich schon blau.
Über die Pferde, die gar nicht mir gehören, die ich lediglich „bediene“, habe ich selten so viel nachgedacht. Es kommt heute wohl davon, daß ich meine grauen Zellen nicht einschlafen lassen darf, um mich nicht in den Schnee zu legen. Heute habe ich keine Lust zu sterben. Zu Hause wartet der Hund, der mir auch nicht gehört. Eigentlich hätte ich jetzt doch gern das Auto hier gehabt -, wegen seiner Standheizung. Aber im Leben bleibt einem ja immer versagt, was man gerade am nötigsten braucht.

Wenn ich wieder zurück bin, werde ich transzendieren. Für mich ist das ein Hineinversetzen in eine andere Dimension, einen fremden Aggregatszustand, eine supervisionäre Geistheilung. Währenddessen ist es mir dann möglich, das Elend auf eine höhere Ebene zu transformieren und es zu genießen.
 
Vom Sommer 2002

In meiner Stadt kann man den Wind sehen, wovon ich irgendwo schon einmal erzählt habe. Vom Nordpol nach Westen und dann links bis dorthin, wo Fahnen aller Länder der Welt flattern. In demselben Wind nämlich, den man im angrenzenden Hochhaus ganz oben an einem Gitter sehen kann. Nur darf man nicht nah herangehen an die eiserne Barriere gegen Selbstmord. Von weiter unten, von einem Stuhl in einer Arzt-Praxis aus ... Ich habe es auch anderen gezeigt, die behaupteten, den Wind ebenfalls zu sehen. Aber eigentlich ist das alles völlig egal. Fast unglaubwürdig.

Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, dann als einer, der eben diese Welt ertragen kann. Ich mag es nicht, wenn es um sieben Uhr morgens schon hell wird und man um neun Uhr das Gefühl hat, bereits seit vielen Stunden allen anderen Menschen voraus zu sein. Wie soll man auch steuern, daß die Nacht um drei Uhr einfach beendet ist. Daran ist auch nicht die Katze schuld. Die merkt einfach nur, daß man gerade sowieso aufwacht. Und danach ist der Tag lang -, bis man wieder einschläft gerade dann, wenn es etwas zu genießen gäbe. Das Gehirn ist eben doch kein verformbarer Ton, ist keine Knetmasse, unterliegt allem möglichen nicht Steuerbaren.

Das Leben läßt sich nur durch Denken erträglich machen. Dadurch, daß man sich selbst eine andere Welt suggeriert, andere Normen, eine andere Ethik, ein anderes Umwelt-Erleben. Sieh dich an. – Gefällst du dir? – Oh, du siehst aus wie die Knetmasse deines eigenen Ich. So eben, wie dich das geformt hat, mit dem du auf Kriegsfuß stehst. Schließ die Tür hinter Dir. Steig hinab vom verlogenen Olymp in die Tiefen deiner Wünsche.

Draußen schneit es mutierte Flocken.
Dadurch wird auch nichts besser.
 
aus 1964

* FEUERWERKE DER WELT *

So schöne braune Haut habe ich mitgebracht. Durch den letzten Sonnenbrand sind die Falten des Alters ein wenig verwischt. Im warmen Sand haben sich die Gelenke erholt. Das Haar ist etwas heller geworden. Mein Spiegelbild scheint sich verjüngt zu haben. Die fettarme Kost hat mich schlanker gemacht, das viele Schwimmen den Körper trainiert und die Helligkeit der Landschaft doch nicht das Gemüt erheitert. Ich fühlte mich jung und gutaussehend, als ich das Flugzeug betrat, und hätte mir einbilden können, dass die Stewardess nur mich so angelächelt habe.
Dann kamen das Aufheulen der Antriebswerke, der leichte Druck an die Sessellehne, der Dunst in größerer Höhe – und das Frühstück, das mir nach der langen Früchte-Zeit nun keinen Appetit mehr machte. In der letzten Nacht hatte ich mit neuen Freunden zusammen gesessen und ein bisschen von ihrem goldgelben, dicklichen Bananen-Likör getrunken ..., jetzt spürte ich eine leichte Müdigkeit und eine sich steigernde Unlust. Mir fiel ein, dass die Eingeborenen gesagt hatten, du nicht schön, du besser weiße Haut. Und ich dachte, sie wollen weiß sein, wir braun – und wie kommt das? Weshalb lässt sich ein schwarzer Mann so lange abschaben und operieren, bis ihm die Nase abfällt -, nur um „weiß“ zu sein? Na ja, aber gut, dass man ihm nicht auch noch die Gene bleichen soll. Im Grunde genommen – auch wenn das manche anzweifeln – bleibt die Seele auch nach einer Psychotherapie die, die sie war. Es bleibt der Körper mit allen seinen Reaktionen das, was er vor der Silikon-Täuschung war.

Ich glaubte in meiner Müdigkeit, wieder diese buntklingende Reggae-Musik zu hören, jene rot-grün-gelben Farben zu sehen, ihren Ananassaft zu trinken oder das Fleisch ihrer Früchte zu essen. Das Brummen des Flugzeugs förderte mein Einschlafen -, und ich schlief stundenlang.




Da sah ich mich wieder die Strände verlassen, sah die Fackeln verlöschen ... Sah mich vom Sand in den Sumpf schreiten ... in die Gegend, in denen die Kinder dicke Bäuche hatten vom Hunger, in denen Ratten die wenigen Nahrungsmittel fraßen oder verdreckten, in denen die Mütter keine Milch hatten für ihre Babys und die Väter mittels Stehlereien ihre Familien versorgten. Die Menschen hier waren viel schwärzer als die, die sich am Strand tummelten und von den Trinkgeldern der Touristen lebten. In ihren Augenwinkeln tranken Fliegen die salzige Flüssigkeit ihrer Tränen. Ihre Haut war faltig und schlaff, auch die der Kinder -, ihr Haar zerzaust und krank. Mit jedem kleinen Wind wurden ihre zugigen Hütten weggeweht. Dann hatten sie lange kein Dach mehr, unter dem sich Kinder, Alte und Kranke hätten niederlegen können. Statt Musik hörte man hier nur Wimmern, statt Strand gab es verseuchte Pfützen, statt Schönheit nur das Elend. Wie lange hätten sie alle hier gesund überleben können, wenn man ihnen nur die Kosten für die Feuerwerke der Welt geschenkt hätte?
Ich brachte ihnen, was ich an Kleidung vermissen konnte, und packte jedes Mal meine Taschen voller Münzen, obwohl das so sinnlos war: zwar bekamen alle so ein abgegriffenes Metall-Plättchen, aber wie lange half das schon. Sie freuten sich auch nicht. Ihre Augen blieben mißtrauisch, manche Mütter weinten. Doch was hätte ich tun sollen? Nicht hingehen? Die schlimmsten Wunden nicht behandeln? Den Kindern nicht die Fliegen aus den Augen wischen? Die Münzen auf meinem Konto lassen? Zurückkommen und wie ein Reisebüro behaupten, es sei dort wunderschön gewesen? Niemandem erzählen, daß dieses Land zweigeteilt ist und niemand die innere Grenze überschreiten möchte?

Nachdem diese so realistischen, kraß und wirklich erlebten Träume vorüber gezogen waren, erwachte ich mit einer unbehaglichen Übelkeit. In meinem Gepäck befanden sich hübsche Pillen dagegen. Ich nahm sie nicht. Gegen seelische Übelkeit wirkten sie nicht. Und schon gar nicht gegen die Unlust.
 
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ein Tag Sentimentalität

Der Baum dort drüben ... Ich dachte gestern: der ist tot. Heut’ ist er grün -, überall grün ..., von gestern zu heute – neues Leben, altes Leben. Die Kastanien blühen. Alles keimt.

Nur ich stehe seitwärts ---, ich bin ein alter Mann.
(
PicCube_682c8ceb62.jpg
)

„Wie du, mein Hund, wie du.“ Zu einem mageren, struppigen sagte ich es, dessen Barthaare ebenso weiß waren wie meine. Er schnupperte -- und wedelte mich Altersgenossen an wie einen Vertrauten ..., da kam die andere Trauer um den letzten eigenen, der mich vor dem Freitod bewahrt hatte, weil meine Hände um seinen Hals sich nicht zudrücken ließen.
Erst er -, dann ich -, aber es klappte nicht. Also entschloß ich mich, am Leben zu bleiben -, für sein Leben. Die Blütenkerzen an den Kastanienbäumen leuchten heute nicht. Ja, welcher Baum trauert schon um einen Hund, der einst seine Rinde wässernd beschädigt hatte. Noch eine kleine Zeit lebten wir zusammen, dann traf ihn der natürliche Tod als ersten von uns beiden. Seitdem bin ich nicht mehr in diesem Wald gewesen. Aber der Baum dort drüben – gestern tot, heute grün – hat nicht durch meinen Hund die Lebenskraft verloren.

Friedwald?
... ein Tag Sentimentalität.
 
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