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Nietzsche: Zur Genealogie der Moral

Zum 2. Abschnitt der Vorrede:

Nietzsche bemerkt hier, dass er mit der vorliegenden Schrift gerne auch an sein frühes Werk "Menschliches, Allzumenschliches" anknüpfen möchte, in dem er einzelne aphoristische Gedanken daraus weider aufgeifen und weiterspinnen möchte. Das ist natürlich ein serh weiter Rückgriff, abe rNietzsche betonnt, dass es ihm um den geraden Wuchs in seinem Werk zu tun ist. Frühere Fäden sollen immer wieder aufs Neue aufgegriffen, und weitergesponnen werden, damit ein dichtes und einheitliches Webstück entsteht, um es in Goethes Bild aus dem Faust zum Ausdruck zu bringen... Wir sehne hier in Nietzsche wahrliche inen großen Webermeister, und wür dürfen auf das Webermeistersück gespannt sein...
Bei mir was das Buch eine Crisis,und Nietzsche schrieb es aus seiner Crisis heraus.
Vielleicht wäre sein Ausspruch gewesen:,..Lern du mich die Menschen kennen,.?!
 
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Nietzsch glaube, die Menschen zu kennen... Und vielleicht kannte er sie auch... Aber einen kannte er defintiv nicht: sich selbst...
 
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Bei einer mir eignen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe – sie bezieht sich nämlich auf die Moral, auf alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist –, einer Bedenklichkeit, welche in meinem Leben so früh, so unaufgefordert, so unaufhaltsam, so in Widerspruch gegen Umgebung, Alter, Beispiel, Herkunft auftrat, daß ich beinahe das Recht hätte, sie mein »A priori« zu nennen – mußte meine Neugierde ebenso wie mein Verdacht beizeiten an der Frage haltmachen, welchen Ursprung eigentlich unser Gut und Böse habe. In der Tat ging mir bereits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man »halb[764] Kinderspiele, halb Gott im Herzen« hat, mein erstes literarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung – und was meine damalige »Lösung« des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn zum Vater des Bösen. Wollte es gerade so mein »A priori« von mir? jenes neue unmoralische, mindestens immoralistische »A priori« und der aus ihm redende ach! so anti-Kantische, so rätselhafte »kategorische Imperativ«, dem ich inzwischen immer mehr Gehör und nicht nur Gehör geschenkt habe?... Glücklicherweise lernte ich beizeiten das theologische Vorurteil von dem moralischen abscheiden und suchte nicht mehr den Ursprung des Bösen hinter der Welt. Etwas historische und philologische Schulung, eingerechnet ein angeborner wählerischer Sinn in Hinsicht auf psychologische Fragen überhaupt, verwandelte in Kürze mein Problem in das andre: unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturteile gut und böse? und welchen Wert haben sie selbst? Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie ein Zeichen von Notstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verrät sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Mut, seine Zuversicht, seine Zukunft? – Darauf fand und wagte ich bei mir mancherlei Antworten, ich unterschied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen, ich spezialisierte mein Problem, aus den Antworten wurden neue Fragen, Forschungen, Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten: bis ich endlich ein eignes Land, einen eignen Boden hatte, eine ganze verschwiegene wachsende blühende Welt, heimliche Gärten gleichsam, von denen niemand etwas ahnen durfte... O wie wir glücklich sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt, daß wir nur lange genug zu schweigen wissen!...
 
Zum 3. Abschnitt der Vorrede:

Nietzsch stellt hier dei Frage in den Raum, unter welchen Bedingungen der Mensch dei Werturteile Gut und böse erfunden hätte, eine Frage, die ihn immer schon beschäftigt hätte... Für mich ist die Sache klar: Niemand möchte, dass ihm jemand andes Schaden zufügt... Aber das wird natürlich nicht Nietzsches Antwort sein... Wird Nietzsche überhaupt eine Antwort geben? Als möglicherweise Egoist, muss Nietzsch jefgliche Moralität ablehnen... Und das ist eben ein absolutes No Go... Denn dann kann mir jeder schlechte Mensch und Dieb jeder Zeit den Schädeleinschlagen, und ich mag das nicht...
 
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Den ersten Anstoß, von meinen Hypothesen über den Ursprung der Moral etwas zu verlautbaren, gab mir ein klares, sauberes und kluges, auch altkluges Büchlein, in welchem mir eine umgekehrte und perverse Art von genealogischen Hypothesen, ihre eigentlich englische Art, zum ersten Male deutlich entgegentrat, und das mich anzog – mit jener Anziehungskraft, die alles Entgegengesetzte, alles Antipodische[765] hat. Der Titel des Büchleins war »Der Ursprung der moralischen Empfindungen«; sein Verfasser Dr. Paul Rée; das Jahr seines Erscheinens 1877. Vielleicht habe ich niemals etwas gelesen, zu dem ich dermaßen, Satz für Satz, Schluß für Schluß, bei mir nein gesagt hätte wie zu diesem Buche: doch ganz ohne Verdruß und Ungeduld. In dem vorher bezeichneten Werke, an dem ich damals arbeitete, nahm ich gelegentlich und ungelegentlich auf die Sätze jenes Buches Bezug, nicht indem ich sie widerlegte – was habe ich mit Widerlegungen zu schaffen! – sondern, wie es einem positiven Geiste zukommt, an Stelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere setzend, unter Umständen an Stelle eines Irrtums einen andern. Damals brachte ich, wie gesagt, zum ersten Male jene Herkunfts-Hypothesen ans Tageslicht, denen diese Abhandlungen gewidmet sind, mit Ungeschick, wie ich mir selbst am letzten verbergen möchte, noch unfrei, noch ohne eine eigne Sprache für diese eignen Dinge und mit mancherlei Rückfälligkeit und Schwankung. Im einzelnen vergleiche man, was ich »Menschliches, Allzumenschliches« (I 483 f.) über die doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse sage (nämlich aus der Sphäre der Vornehmen und der der Sklaven); insgleichen (ebd. 535 ff.) über Wert und Herkunft der asketischen Moral; insgleichen (ebd. 504 ff. u. 770) über die »Sittlichkeit der Sitte«, jene viel ältere und ursprünglichere Art Moral, welche toto coelo von der altruistischen Wertungsweise abliegt (in der Dr. Rée, gleich allen englischen Moralgenealogen, die moralische Wertungsweise an sich sieht); insgleichen (ebd. 501 f.), »Wanderer« (ebd. 885 f.), »Morgenröte« (ebd. 1084 f.) über die Herkunft der Gerechtigkeit als eines Ausgleichs zwischen ungefähr Gleich-Mächtigen (Gleichgewicht als Voraussetzung aller Verträge, folglich alles Rechts); insgleichen über die Herkunft der Strafe »Wanderer« (ebd. 881 f. u. 890 f.), für die der terroristische Zweck weder essentiell noch ursprünglich ist (wie Dr. Rée meint – er ist ihr vielmehr erst eingelegt, unter bestimmten Umständen, und immer als ein Nebenbei, als etwas Hinzukommendes).
 
Zum 4. Achschnitt der Vorrede:

Nietzsche berichtet hier von einem Schlüsselerlbnis, nämlich der Lektüre eines englischen moralphilosophischen Werkes, in dem versucht wird, den Utilitarismus, diese typsiche verquaste britische Abart des Denkens genologisch und historisch ab- und herzuleiten... Nietzsche muss buchstäblich der Ekel befallen haben, und das hätte es mich wohl auch... Aber anstatt darin ein schaurig-abschreckendes Beispiel für die Verlogenheit und Verkommenheit der britischen Geiste3sart zu sehen, wertet er es um in eine Bestätigung seiner grundsätzlichen Ablehnung jeglicher Moraität... Und das kann Nietzshe nicht machen... Zwar ist die britische Geistesart, nicht zuletzt in moraltischen Fragen, reines Exkrement, aber das sollte uns nicht zur generellen Ablehnung jeglicher Moral verleiten... Übrigens war es der Engländer Mill, der das Nichtschadensprinzip entdeckt hat... Und noch etwas sei erwähnt: Die Briten sind zwar im Allgemeinen Empiristen, aber es gibt tatäschlich ein britisches Rationalismus-Wiki... Das hat mir gezeigt, dass es tatäschlich auch das andere, das vernünftige England gibt, auch wenn man lange danch suchen muss...
 
Zuletzt bearbeitet:
So, ich komme wieder rein... Nach Mitternacht dann noch die letzten vier Abschnitte der Vorrede.. Und morgen im Laufe des Tages gibt es dann einen Auszug aus der besprecchung aus Kindlers Neuem Literaturlexikon... Mal sehen, was "die" meinen... Bis dann...
 
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Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wichtigeres am Herzen als eigenes oder fremdes Hypothesenwesen über den Ursprung der[766] Moral (oder, genauer: letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es eins unter vielen Mitteln ist). Es handelte sich für mich um den Wert der Moral – und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem großen Lehrer Schopenhauer auseinanderzusetzen, an den wie an einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buchs sich wendet (– denn auch jenes Buch war eine »Streitschrift«). Es handelte sich insonderheit um den Wert des »Unegoistischen«, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schließlich als die »Werte an sich« übrigblieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, nein sagte. Aber gerade gegen diese Instinkte redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn, eine immer tiefer grabende Skepsis! Gerade hier sah ich die große Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung – wohin doch? ins Nichts? –, gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum – Nihilismus?... Diese moderne Philosophen-Bevorzugung und Überschätzung des Mitleidens ist nämlich etwas Neues: gerade über den Unwert des Mitleidens waren bisher die Philosophen übereingekommen. Ich nenne nur Plato, Spinoza, Larochefoucauld und Kant, vier Geister so verschieden voneinander als möglich, aber in einem eins: in der Geringschätzung des Mitleidens. –
 
Zum 5. Abschnitt der Vorrede:

Nietzsche verachtet hier das schopenhauersche Mitleidsgdusel, und das absolut zu Recht... Und seine Kritik daran muss wohl sehr zündend gewesen sein, denn auch der heutige Buddhismus spricht nicht mehr länger von Mitleid, sondern nur noch von Mitgefühl... Auch das wider völlig zu Recht... Aber Nietzsches Mitleidskritik ist trotzdem Kein Grund, die Moral mit dem Bade auszuschütten...
 
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Dies Problem vom Werte des Mitleids und der Mitleids-Moral (– ich bin ein Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung –) scheint zunächst nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich; wer aber einmal hier hängenbleibt, hier fragen lernt, dem wird es gehn, wie es mir ergangen ist – eine ungeheure neue Aussicht tut[767] sich ihm auf, eine Möglichkeit faßt ihn wie ein Schwindel, jede Art Mißtrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt – endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu tut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände not, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Mißverständnis; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntnis weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist. Man nahm den Wert dieser »Werte« als gegeben, als tatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, »den Guten« für höherwertig als »den Bösen« anzusetzen, höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im »Guten« auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger?... So daß gerade die Moral daran schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?...
 
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