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Lieblingsgedichtssammlung

AW: Lieblingsgedichtssammlung

Meine süße Puppe,
Mir ist alles schnuppe,
Wenn ich meine Schnauze
Auf die Deine bautze.

Kurt Schwitters
 
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AW: Lieblingsgedichtssammlung

Holde Anemone,
bist du wieder da
und erscheinst mit heller Krone
mir Geschundenem zum Lohne
wie Nausikaa?

Windbewegtes Bücken,
Woge, Schaum und Licht!
Ach welch sphärisches Entzücken
nahm dem staubgebeugten Rücken
endlich sein Gewicht?

Aus dem Reich der Kröte
steige ich empor,
unterm Lid noch Plutons Röte
und des Totenführers Flöte
gräßlich noch im Ohr.

Sah in Gorgos Auge
eisenharten Glanz,
ausgesprühte Lügenlauge
hört' ich flüstern, daß sie tauge
mich zu töten ganz.

Anemone! Küssen
laß mich dein Gesicht:
ungespiegelt von den Flüssen
Styx und Lethe, ohne Wissen
um das Nein und Nicht.

Ohne zu verführen,
lebst und bist du da,
still mein Herz zu rühren
ohne es zu schüren -
Kind Nausikaa!

ELISABETH LANGGÄSSER
http://de.wikipedia.org/wiki/Elisabeth_Langgässer

Frühling 1946

___________________________________________

Aus der - oben von Fritz erwähnten - großen Sammlung
von Karl Otto Conrady (Ausgabe 1977) auf den Seiten 818 f.

Das Buch war eine der wichtigsten Quellen für meine
(auch in mehreren Sonderausgaben existierende)
Sammlung "Der treffende Vers".
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

... sehr schön, die Erinnerung an Elisabeth Langgässer - aber da fallen mir mit Heinz Piontek, Oskar Loerke, Günter Eich, Ilse Aichinger, Elisabeth Borchers, Marie-Louise Kaschnitz gleich eine ganze Reihe Dichter und Dichterinnen aus dieser Zeit ein, die wiederzulesen immer lohnt; besonders hat es Günter Eich angetan mit seiner lakonischen, aber aufs Existentielle verweisenden Sprache - zwei Beispiele mit dem gleichen Motiv:

DIE HÄHERFEDER

Ich bin, wo der Eichelhäher
zwischen den Zweigen streicht,
einem Geheimnis näher,
das nicht ins Bewußtsein reicht.

Es preßt mir Herz und Lunge,
nimmt jäh mir den Atem fort,
es liegt mir auf der Zunge,
doch gibt es dafür kein Wort.

Ich weiß nicht, welches der Dinge
oder ob es der Wind enthält.
Das Rauschen der Vogelschwinge,
begreift es den Sinn der Welt?

Der Häher warf seine blaue
Feder in den Sand.
Sie liegt wie eine schlaue
Antwort in meiner Hand.


(aus: Abgelegene Gehöfte, 1948)

TAGE MIT HÄHERN

Der Häher wirft mir
die blaue Feder nicht zu.

In die Morgendämmerung kollern
die Eicheln seiner Schreie.
Ein bitteres Mehl, die Speise
des ganzen Tags.

Hinter dem roten Laub
hackt er mit hartem Schnabel
tagsüber die Nacht
aus Ästen und Baumfrüchten,
ein Tuch, das er über mich zieht.

Sein Flug gleicht dem Herzschlag.
Wo schläft er aber
und wem gleicht sein Schlaf?
Ungesehen liegt in der Finsternis
die Feder vor meinem Schuh.


(aus: Botschaften des Regens, 1955)
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Nur zwei Dinge

Durch so viel Formen
geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage:
wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
-ob Sinn, ob Sucht, ob Sage
dein fernbestimmtes:
Du mußt!
Ob Rosen, ob Schnee,
ob Meere,
was alles erblühte,
vergeblich,
es gibt nur zwei Dinge:
die Leere
und das gezeichnete Ich.

Gottfried_Benn
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Das hier von Oskar Loerke habe ich immer einfach nur schön gefunden...

Grab des Dichters

Früh sah ich vorne
Vorm Tor, wo der Bauer im Kühlen harkt,
Die feurigen Dorne
Des Morgens zu maßlosem Licht erstarkt.

Der Gott hat Muße.
Andern verblieb es, ein Tagwerk zu tun,
Mir, unter dem Fuße
Der trauernd geschwätzigen Winde zu ruhn.

Wenn die uralte Traube,
Die schwarze, wiederkehrt staubig und warm,
Weckt mich immer der Glaube:
Du sollst nicht schluchzen, der Gott wird nicht arm.
 
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WIE GERN WÜRDE ICH
unter Menschen leben,
die das Schloß vor ihrem Herzen
längst weggeworfen haben
und frei atmen.

Es wäre schön,
sich zu begegnen
ohne Angst und ohne Masken,
sich zu erkennen
vom ersten Augenblick an
und wenig Worte machen zu müssen,
weil Seelen
sich viel leichter
im Schweigen einander schenken.

Hans Kruppa
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?
REISEN

Gottfried Benn

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhof Straßen und Ruen,
Boulevards, Lidos, Laan
selbst auf den Fifth Avenuen
fällt Sie die Leere an.

Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?
REISEN

Gottfried Benn

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhof Straßen und Ruen,
Boulevards, Lidos, Laan
selbst auf den Fifth Avenuen
fällt Sie die Leere an.

Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.


...sorry, ich werde nie verstehen, warum man in diesem Forum seine eigenen Texte nicht ändern kann; ich habe das Gedicht von einer anderen Webseite kopiert, den dort falschen Zeilenbruch korrigiert (dabei ist mir leider der dort auch fehlende Titel in eine falsche Zeile gerutscht) - da ich aber das Gefühl habe, das auf der besagten Webseite auch schludrig mit der Original-Interpunktion umgegangen wurde, zitiere ich jetzt aus der Werkausgabe:

REISEN

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhofstraßen und Ruen,
Boulevards, Lidos, Laan -
selbst auf den Fifth Avenuen
fällt sie die Leere an -

Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

Gottfried Benn
 
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Holde Anemone,
bist du wieder da
und erscheinst mit heller Krone
mir Geschundenem zum Lohne
wie Nausikaa?

...

Ohne zu verführen,
lebst und bist du da,
still mein Herz zu rühren
ohne es zu schüren -
Kind Nausikaa!

...


Kleiner Nachtrag - es gibt ein ganz ähnliches Gedicht von Oskar Loerke:

Ans Meer

Der Nebel reißt, der albisch kroch
Aus meinem Blut zum Totenfeld:
Ein Morgen scheint im Wolkenloch
Hoch auf die Welt.

Das Leben kommt von weitem her.
Und es geschieht, was einst geschah?
Mit ihrer Wäsche fährt ans Meer
Nausikaa.

Ein Weg weist nach Byzanz und Rom,
Für mich betritt ihn der Barbar.
Im Stein verwittert schon am Dom
Sein Mund, sein Haar.

Doch wann bin ich? Der Morgen währt,
Ein Rauschen ruft, ein Meer ist nah -
Ans Meer mit ihrer Wäsche fährt
Nausikaa.
 
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Irren ist menschlich.
Mich persönlich freut es, dass in diesem Thread so viele gute Gedichte zu finden sind.
Und auch die Links zu den Künstlern sind interessant.

Von mir gibt es ein etwas weniger bekanntes Gedicht von Rilke, das ich sehr schön finde.

Das Kind

Unwillkürlich sehn sie seinem Spiel
lange zu; zuweilen tritt das runde
seiende Gesicht aus dem Profil,
klar und ganz wie eine volle Stunde,
welche anhebt und zu Ende schlägt.
Doch die Andern zählen nicht die Schläge,
trüb von Mühsal und vom Leben träge;
und sie merken gar nicht, wie es trägt -,
wie es alles trägt, auch dann, noch immer
wenn es müde in dem kleinen Kleid
neben ihnen wie im Wartezimmer
sitzt und warten will auf seine Zeit.

Rainer_Maria_Rilke
 
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