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Nachmittagsphantast

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27. Januar 2006
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Plötzlich fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Es geschah versehentlich, würde er hinterher behaupten, wenn ihn einer nach dem Hergang des Geschehens befragen würde. Es befragte ihn keiner. Hendrick war alleine, als er seine Entscheidung traf. Der Flur war leer, roch muffig nach Zigarren, einen Geruch, den Hendrick verabscheute. Langsam ging er den Flur hinunter, immer wieder einen hastigen Blick auf die verschlossenen Türen zu beiden Seiten werfend. Türen von zumeist leerstehenden Wohnungen. Nur wenige waren bewohnt und die wenigsten Nachbarn kannten hier einander. Jeder lebte für sich und das war Hendrick in diesem Moment ganz recht. Er wollte nicht gesehen, geschweige denn erkannt werden, als er das Haus verließ. Als ob man ihm seine finsteren Pläne schon ansähe. Mit seiner rechten Hand griff er an seine Hosentasche, befühlte den dicken Geldbeutel, der darin steckte. Eine Geste, die er immer wieder geradezu manisch ausführte, da Hendrick darunter litt, zu viele Taschen zu haben. Zu viele Taschen, die etwas verlieren könnten. Er war noch da. Erleichtert beschleunigte er seine Schritte, schwang die Flurtür energisch auf, die beinahe eine entgegenkommende Matrone umwarf, zumindest aber ins Wanken brachte. Das fluchenden Geschnatter ignorierend lief Hendrick weiter, hastete die Treppen hinunter und... blieb vor der Haustür noch einmal stehen. Schaute zurück, roch den Ruß in der Luft, den Gestank nach Alkohol und Erbrochenen von der Toilette im Erdgeschoss nebenan. Drehte sich um und setzte seinen Weg fort. Hendrick packte sich in den nächstbesten Bus, setzte seine Kopfhörer auf und ließ sich vollkommen aus der Wirklichkeit gleiten. Das Ziel war ihm egal, er hatte keins. Er wusste nur, dass das Versehen keines war. Dass er keine Wahl hatte, sich keine Wahl geben wollte. So ist es besser, dachte er. Die Großstadt rauschte an ihm vorbei. Es war noch früh am Morgen. Die Sonne lug zaghaft am Horizont hervor. Bald würde es hell werden. Auf den Straßen herrschte Stille. Die Penner schliefen noch. Hier und da lag eine zerbrochene Bierflasche auf den Gehwegen. Die Überbleibsel von Nachtschwärmern. Ein alltäglicher Anblick. Hendrick döste vor sich hin, als der Bus den Stadtrand erreichte. Bald würde er am Bahnhof sein. Um wohin zu fahren? Er wusste es noch nicht. Nur weg, das war sein Ziel, das war sein Credo. Am Bahnhof angekommen stieg Hendrick in den nächstbesten Zug um, der in Richtung Berge fuhr. Erst eine schwache Silhouette am Horizont gewannen die nahenden Berge bald an Konturen. Wahllos deutete Hendrick mit dem Zeigefinger auf einen Berg irgendwo inmitten vieler Berge. Da gehe ich heute hinauf, dachte er voller Tatendrang. Jetzt brachen alle Dämme. Jetzt war er ungebunden, konnte tun und lassen, was er wollte. Der Zugkontrolleur riss ihn aus seinen Gedanken. „Fahrscheine bitte!“ sagte er. Sonst sagte er nichts, grummelte nur Unverständliches in seinen Bart, als er sich Hendricks Monatskarte besah, und ging weiter. Hendrick seufzte in seinen nicht vorhandenen Bart und sah wieder aus dem Fenster. Der von ihm ausgewählte Berg war hinter den unzähligen Sträuchern und Bäumen verschwunden, welche die Gleise zu beiden Seiten säumten. Unablässig, sie baten ihm keine Gelegenheit, erneut einen Blick auf seinen Berg zu werfen. Dann wird es eben ein anderer Berg sein, dachte Hendrick ärgerlich, und schlief wieder ein. Zwei Stunden später, Hendrick kam es vor, als hätte er nur ein paar Minuten geschlafen, wurde er von einer beunruhigenden Neuigkeit geweckt, die sich in sein Unterbewusstsein geschlichen hatte. Diese Neuigkeit bestand vorwiegend aus dem Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, etwas Wichtiges zurückgelassen zu haben, das er noch unbedingt brauchen würde. Er konnte noch nicht zuordnen, was es war. Als der Zug seine Endstation erreichte, thronte vor Hendrick ein Berg. Es war nicht irgendein Berg, sondern zufälligerweise sein Berg. Seine Flanken waren zunächst steil, wie es sich für seinen Berg gehörte, wuchsen dann flach an, um nochmalig sehr steil und fast überhängend zum Gipfel aufzusteigen. Eine Seilbahn fuhr in unmittelbarer Nähe auf die Gipfelstation des Berge, und Hendrick, der sich bisher nie viel aus ausgedehnten Wandertouren gemacht hatte, nahm diesen Lift, um seinen Berg zu bezwingen.

Vier Menschen betraten den Lift am frühen Vormittag, es war etwa neun Uhr, um aufzufahren in den Himmel. Es waren vier Menschen, die diesen Berg bezwingen wollten. Hendrick war einer von ihnen, dann ein älteres Ehepaar, das nicht mehr so gut laufen konnte, aber beinahe jedes Wochenende auf diesen Berg fuhr, um Abstand zu bekommen, Abstand von der grauen, übelriechenden Großstadt, Abstand peniblen Behörden, deren einzige Aufgabe darin zu bestehen schien, ihnen, den hart in ihrem Leben gearbeitet habenden Rentnern, ihr letztes Geld wegzunehmen. Die beiden hatten einen Namen, aber da sie ohnehin bald sterben würden, wäre es unsinnig, sie hier zu nennen. Die letzte Person, die den Berg in Angriff nahm, war eine Frau in Hendricks Alter. Sie einfach hübsch und gebärfähig zu nennen hätte den absehbaren Ausgang der Geschichte wohl arg überstrapaziert, sie war hübsch und gebärfähig, aber auch emanzipiert und keineswegs in der Laune eines Ausrutschers in der Liftkabine. Ihr Name war Sarah, und Sarah, die nur zehn Fußminuten von der Talstation entfernt wohnte, hatte eine miese Nacht hinter sich, in der sie das Erbrochene ihrer Freundin nach dem letzten Discobesuch von ihrem Sofa wischen durfte. Als Hendrick in ihre wütenden Augen sah, wusste er sofort, dass sie für unverfängliche Konversation nichts übrigen haben würde. Diese vier Menschen also beschlossen ausgerechnet heute den ersten Lift auf den Berg zu nehmen, auf ihren Berg. Etwa nach der Hälfte der Wegstrecke hörten sie ein ganz und gar ungewöhnliches Geräusch, und ohne viel Aufhebens über die Herkunft dieses Geräusches zu machen, kann man wohl sagen, dass es nicht gerade für Entspannung in der engen Liftkabine sorgte. Etwa nach zwei Dritteln des Weges hielt die Seilbahn mit einem Ruck an, ein Seil zersprang mit einem peitschenden Knall und die vier zu Tode erschrockenen Insassen baumelten in einer Höhe von mehreren hundert Metern über dem Abgrund einer Schlucht, nur mehr gehalten einem Seil. Sarah, die sich inzwischen gedanklich von der Kotze ihrer Freundin befreien konnte, hielt sich krampfhaft an den Querverstrebungen fest, die sich durch die Kabine zogen. Hendrick betrachtete die Lage mit einer gewissen Unruhe, die mit dem Blick in den Abgrund nicht besser wurde. Er traute sich kaum, sich von der Stelle zu rühren. Sie mochten jeden Moment abstürzen. Das ältere Ehepaar schnappte nach Luft. Die Obduktion sollte später ergeben, dass der Mann bereits in der Kabine einen Herzinfarkt erlitten hatte und daran auch dann gestorben wäre, wenn die Kabine nicht abgestürzt wäre. Was sie in diesem Moment tat. Hendrick hatte nicht einmal Gelegenheit, Sarah zu fragen, ob sie auch Angst hätte, was in diesem Moment wohl eine völlig weit hergeholte Frage gewesen wäre. Sie stürzten ab und Hendrick entsann sich plötzlich wieder, was er zuhause vergessen haben könnte. Einer glücklichen Fügung wegen prallte die Kabine nicht auf den nackten Fels, auf dem sie sofort zerschellt wäre, sondern wurde von den dichten Latschenkieferfeldern am Hang abgebremst, kullerte mit mehreren Überschlägen weiter hangabwärts und blieb schließlich unmittelbar vor dem Abgrund der Schlucht an einer stramm gewachsenen Fichte stehen. Hendrick erwachte als Erster aus der Ohnmacht. Die Kabinenfenster waren blutig. Das eingedellte Gesicht der älteren Frau führte ihm vor Augen, wie viel Glück er hatte. Sie war tot, ebenso wie ihr Ehepartner, der – Glück im Unglück – schon vor dem Aufprall gestorben war. Sarah lebte, auch wenn sie sich im ersten Moment kaum bewegen konnte, da Hendrick über ihr lag. Sie beide hatten wie durch ein Wunder den Absturz aus vierhundert Metern Höhe überlebt, zwar nicht unverletzt, aber sie lebten. Hendrick bemerkte Prellungen an Armen und Beinen, aber konnte sich aufrechten, ohne vor Schmerz aufzuschreien. Er beugte sich zu Sarah hinunter, die mit schmerzverzerrtem Gesicht ihr linkes Knie massierte. Vorsichtig legte er seine Hand auf ihr Knie und drückte kurz, aber fest zu. Sie schrie auf, stieß dann aber einen Laut des Erstaunens aus. Die Schmerzen waren verschwunden. Hendrick lächelte, ergriff ihre Hand und zog sie aus der zerbeulten Kabine heraus. Sie lächelte zurück, gab ihm einen Kuss auf die Wange und schaute dann scheinbar desinteressiert in der Gegend herum. Meinen Verstand, dachte er, den hab ich heute früh auf der Kommode liegen lassen.

[...]

Nachtphantast
 
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