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Immer die gleiche Leier

PlacidHysteria

Well-Known Member
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5. März 2017
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1.992
Riiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiing. Riiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiing. Der Wecker läutet zum Morgenapell. Tomoya Sato, der dem jeder vorgesetzt ist, so scheint es, schwingt seine Beine über den Bettrand und richtet sich sukzessiv auf, lässt seinen Blick durch das besenkammergroße Zimmer schweifen. Der Wecker. Schon wieder schrillt eine Fontäne aus stressfördernden Frequenzen aus dem digitalen Wachmacher. Tomoya beendet die Schreckensherrschaft der Kakophonieschleuder, indem er ihr mit seinem Zeigefinger auf die Warze ihres Scheitels drückt. Endlich Ruhe. Bis auf die unregelmäßige Pegelschwankung, die von dem Rush Hour-Verkehr, 50 Meter unter seiner kleinen bienenwabenähnlichen Wohnung herrührt. Mr. Sato bemüht sich in die Küche. Das PB&J, ein Trendgenuss aus den Staaten, wartet, nach dem Morgenappell, ungeduldig neben dem Glas Mandelmilch auf Toms Salutation.

„Gut geschlafen?“, fragt seine Frau.

„Ja.“, monotoniert Tom.

„Ok. Ich hab das Sandwich heute mit Erdbeer-, statt mit Johannisbeermarmelade gemacht, ist das ok?“

„Ja.“- Sato im gleichen Tonfall.

„Ok. Ich…äh…. Viel Spaß“, mit einem Lächeln wendet sie sich ab und das Wohnzimmer verschluckt sie wie am Vortag.

Tomoya nimmt einen Bissen. Es schmeckt ok. Bei dem Bissen bleibt es nicht, doch die Mandelmilch bleibt unberührt.


Zum Zähneputzen bleibt keine Zeit. Stattdessen kaut Sato einen Pfefferminzkaugummi. Der Geschmack vom PB&J wird wie eine Linie aus Graphit wegradiert. Tom wirft sich in seinen Anzug, frisch aus der Wäscherei. Der Kragen sitzt nicht. Die Krawatte passt nicht. Sobald alles gerichtet ist, nimmt der Salaryman den Aufzug nach unten. Auf dem Weg steigen mehr als zehn Personen in die ohnehin schon viel zu kleine Kabine. Sobald die potentielle Energie bis zum minimalsten Punkt gesunken ist, erreicht die Gruppe aus Hals über kopflosen Abenteurer den Ausgang des Tempels. Toms Metro kommt zwei Minuten zu früh. Sein Tagesrythmus ist damit vollends am Ende. Wie Schlachtvieh aus westlichen Antimassentierhaltungsdokus wird Sato zwischen Krawatte und Blazer gepfercht. Sein Hemdkragen quetscht ihm gerade so viel Luft nicht ab, sodass sein Gehirn nur noch röcheln kann. Merklich wird die Luft heißer. Bald fühlt es sich an, als wäre gar kein Sauerstoff mehr im Abteil. Ja nicht zusammenbrechen, soufflieren Tom und die Blicke bzw. Uhren der anderen Gäste ihm selbst. Die Müdigkeit kommt in Wogen durch den Wagon. Wegen den Schüben sackt Tom mal zusammen, mal reißt er seine Augen auf eine Spannweite von gefühlt einem halben Meter auf. Vorsichtig holt Tom sein Handy aus dem linken Hosensack und entsperrt es. Die Stöpsel fliegen förmlich in sein Ohr und hastig ist die Videothek für westliche Filme präsent. Der Zug kommt nach 10 Minuten zum Stehen. Sein Handy fängt er gerade noch so auf. Die Kopfhörer schlenkern an seinem Hosenbein. Sato wird hinausffragmentiert, wie ein Splitter einer Granate. Er stolpert. Zieht sich wieder sein Sakko an, das er wegen der Hitze in der Bahn abgestreift hatte.


Der Weg zu seinem Arbeitsplatz ist kurz. Zu kurz an Tokios verschmutzter Luft, die doch noch besser ist, als die die Sato vor zehn Minuten untertage inhalierte. Er nimmt einen tiefen Zug aus der Smog-Pfeife. Er blickt sich um und stellt sich vor in einem Film die Hauptrolle zu spielen. Er verfällt in pure Fantasie. Die Luft ist besser. Die Häuser bunter. Die Menschen gemütlicher. Doch die Amplitude, die von der Straße in Dauerfeuer zu ihm hin prellt, kann er nicht ausblenden. Träge setzt er einen Fuß hinter den anderen. Ein Lächeln umspielt seine Lippen. Er geht wie als wäre unter ihm eine dieser Slacklines, die er oft in westlichen Dokus sah. Sato versucht zu balancieren. Scheitert. Stolpert. Lächelt. Noch ein Versuch! Scheitert. Plötzlich stößt er mit seiner Ferse gegen etwas Hartes. Er dreht sich auf einem Bein um. Und starrt auf: 6:34. Schock erfüllt ihn. Vier Minuten zu spät! Er wendet sich ab und sprintet los. Nimmt drei Stufen auf einmal, als er sein Bürogebäude erreicht hat. Er keucht und schnauft. Zieht die Keycard durch den Schlitz am Eingang. Schafft es gerade noch in den Aufzug. Die Tür schließt sich. Er wird an die Lifttür gepresst und atmet noch schwächer. Die Tür geht auf. Er ist da. Endlich.


Doch wieder dieser Lärm. Der Kragen ist wieder zu eng, das Hemd klebt an Sato wie sein Chef an den Banknoten. Tom wird schwindelig. Als würde er im Gehirn eines Parkinson-Erkrankten stecken, wankt er zu seinem Sessel und lässt sich fallen. Der Sitz knackt, gibt nach und wird sanft abgedämpft. Tom lässt seine Arme über die Armlehnen rutschen.

„Mr. Sato!“, weckt sein Chef ihn aus seiner Trance.

Sato stemmt sich hoch und startet seinen PC.

„Sie sind zu spät! Machen sie heute das Doppelte und stellen Sie die Liste mit den Adressen endlich fertig! Ich will sie heute noch!“

„Ja.“, schlichtet Sato bei.

„Auf was warten Sie??! An die Arbeit!“

„Ja.“


Sato arbeitet im Getöse um ihn herum nur halb so effizient. Er überbrückt die zehn minütige Mittagspause mit einer Portion Zahlensalat, einem Automatenkaffee und löffelweise Koffeintabletten. Sato seufzt. Sato sitzt. Sato schreibt. Die Liste. Um 23:46 steht er auf und besucht die Toilette. Dort riecht es gut. Musik quinquiliert durch in der Decke eingebaute Boxen. Sato sieht nach oben und betrachtet die silbernen Schrauben, mit denen die Boxen fixiert sind. Wahre Anker, unbeachtet. Zurück am Platz arbeitet er bis 2. Dann fährt er nach Hause und schläft bis 5. Dann führt er Buch über Ausgaben seiner Frau und Einnahmen seiner Wenigkeit. Den bitteren Geschmack des eher wenig rosigen Endergebnisses, trinkt Sato mit einer europäischen Köstlichkeit namens Rosé hinunter. Er duscht und beeilt sich in den Aufzug. Die Bahn ist voll, die Luft dünn, er schiebt sich wieder nach oben in die Mischluft aus Rauch und schwärzerem Rauch. Er fährt mit dem Lift nach oben, und steigt aus. Mit dem Kopf nach unten gerichtet sieht er auf einen kakifarbenen Teppichboden. Er geht weiter, doch irgendwas ist anders. Kein Lärm. Niemand ist mit ihm hier ausgestiegen. Er muss sich ausbessern: kein menschlicher Lärm. Keine Stimmen. Nur ein Klopfen, wie ein Hammer auf einen Nagelkopf. Und dieser Boden. Er schaut auf und sieht draußen die Stadt. Er geht weiter und schließt seine Augen, denn das Klopfen hat aufgehört und endlich ist Ruhe. Sein Schuhwerk versinkt im Boden. Sato atmet tief ein und stellt sich vor er wäre allein auf der Welt. Ohne jeden Zweifel an der Sicherheit, die vor ihm die Scheiben symbolisieren legt er an Tempo zu und tänzelt zum Fensterrahmen. Ein Schritt. Der Boden gibt nach, nein nicht der Boden, das Gebäude. Unter ihm Luft. Er erschrickt. Er will noch nicht sterben versichert er laut denkend. Das Klopfen geht weiter, nun in einer anderen Tonleiter, Clong Clong Clong. Metall wird geschlagen. Ein Bohrgeräusch. Ganz nah. Sato hält sich am Fensterrahmen, der in den Boden fließt, fest. Von draußen riecht er nun wieder den Lärm. Er hört den Gestank. Ein Gedanke: Ich bin zu spät! Das Hemd, es nefft und würgt, der Sauerstoff vergeht wie die Gesundheit, die Müdigkeit kommt und die Übelkeit nimmt überhand. Seine Finger zittern und seine Mattheit lässt ihn nach vorne fallen.
 
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