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Holzofenbrot aus handgeschnitzter Wassermühle

Bernd

Well-Known Member
Registriert
3. Mai 2004
Beiträge
8.643
Mir fällt seit Jahren ein merkwürdiger Trend auf, zu dem ich gern eure Einschätzung hören würde. Beinahe in jeder Urlaubsregion strömen lustwandelnde Reisende zu historischen Ölmühlen, Kerzenmanufakturen, sie fahren mit alten Dampfloks, belegen da sogar Heizerkurse, sie verbringen einen Tag mit echten Cowboys, sie zahlen dafür, in Weinbergen oder Gestüten auszuhelfen, sie kaufen handbemalte Keramik und handgeschöpften Käse, Hammelsalami und Ebereschenlikör. Sie schlafen in unbeheizten Blockhütten und Eisiglus, qualmende Dampfer und freilaufende Urzeithühnchen ziehen sie magisch an.

Die Töpfereien, Hausimkereien oder historischen Kunsthandwerker würden ihre Produkte niemals auf einem echten Markt verkaufen können, sie leben allein davon, den Touris ihre völlig überteuerten Produkte mit Echtheitszertifikat anzudrehen, alles ist nachhaltig, ganzheitlich und entschleunigt. Die Anbieter tun so, alsob sie die Tradition hoch halten, die Touris tun so, alsob das noch "mit der Hand gemacht wird",... ja...sie tun so alsob......

Was zieht die Leute dabei so an?


Viele Grüße
Bernd
 
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Was zieht die Leute dabei so an?

Die Menschen sehen sich in ihrer Alltagssituation einer technischen und gesellschaftlichen Revolution ausgesetzt, die sie weder beeinflussen können, noch durchschauen sie sie. In unserer Zeit ist dies die Digitalisierung, zu anderen Zeiten waren es andere (Industrielle Revolution).
Die Veränderungen schaffen ein Gefühl der Unsicherheit, aus dem ein Gegenmodell entsteht.
Das Gegenmodell besteht aus dem Rückblick auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit, die dabei romantisiert wird. Die "reale" Welt ist digital und damit nicht greifbar, das Gegenmodell ist aber greifbar: Das Glas Marmelade, die getöpferte Schale, die Kerze. Auch gewählte Arbeiten sind greifbar: Jemand schuftet als Heizer (aber nicht als mittelalterlicher Buchhalter).
Es ist die Sehnsucht nach den "guten, bewährten Dingen" aus einer "guten, alten Zeit".
Solche Gegenbewegungen gab es auch schon zu früheren Zeiten. Zu Goethes Zeiten war das die Romantik, später der Impressionismus oder auch die Vegetarismus-, Wander- und FKK-Bewegungen in den 20er und 30er Jahren.

Für die Kulisse dieses Gegenmodells ist wichtig, damit sie funktioniert:
- Die Kulisse muss den romantischen, heutigen Vorstellungen entsprechen und nicht einer historischen Realität. Ein heutiges Mittelalter-Spektakel oder -markt hat mit dem Mittelalter soviel gemeinsam wie eine Westernshow mit der amerikanischen Pionierzeit. Auch die angebotenen Produkte entsprechenden dem heutigen Geschmack: Ein authentisches mittelalterliches Essen wäre für uns ungenießbar, ein kratziges Leinenhemd würden wir auf der bloßen Haut nicht tragen wollen.
- Die negativen Aspekte der Geschichte werden ausgeblendet. Da spinnen eifrig ältliche Damen auf dem "Künstler-Markt" mit dem Spinnrädchen, aber unsere Vorfahren dürften froh gewesen sein, diese Arbeit nicht mehr machen zu müssen. Das schuften Bürohengste fröhlich am Heizkessel, denken aber nicht an den krummen Rücken und die Staublunge des historischen Heizers.

Auch die Werbung bedient nicht selten solche historische Romantik. Im Grunde so häufig, dass sich uns solche Bilder schon derartig eingebrannt haben, dass wir den Unsinn nur noch wahr nehmen, wenn man sich darum aktiv bemüht.
Es wird für einen Frischkäse geworben:
Da sieht man eine dralle Dame in Tracht, die singend auf der Alm in einem großen Holzbottich rührt. Und schon naht ihre Schwester mit zwei Holzeimern Milch als Nachschub.
Es dürfte natürlich jedem klar sein, dass der Käse weder so entsteht oder in der Masse auch nur so entstehen könnte; noch entspräche dies heute der Lebensmittelhygiene. Tatsächlich kommt der Käse aus der Käsefabrik, aus Stahltanks und er wird maschinell abgefüllt.
 
Mach mich "Digital & Virtuell" SATT! Wenn du das schaffst ohne mir zu empfehlen "Peter Pan" zu spielen, dann hat das Digitale eine "wirkliche" Chance.

Doch so lange, du es nicht schaffst, dass die Wurst oder Banane digital bei mir ankommt, um den Magen zu sättigen, sind alle Argumente nichtig.

Ich würde auch, wenn ich das Geld hätte, da oben mit wirken. Nicht bei allem, doch bei dem, was ich im Alltag "vermisse".
 
Sehr gut formuliert, Giacomo. Die moderne Entwicklung scheint eine innere Leere und Unsicherheit entstehen zu lassen, die mit diesem Kitsch vorübergehend gefüllt wird. Es stimmt, die Kulisse ist dabei für spielfilmisch geprägte Menschen wichtig. Das Denken versucht, durch eine visualisierte Inszenierng die Realität zu ersetzen, was aber nicht wirkt. Man fühlt sich dadurch nicht besser, man wird nie satt, wie Wortjan schreibt.

Die Leute mögen die direkte Lebensweise, sehen sich selbst aber nicht in der Lage, sie umzsetzen, zu verwirklichen. Sie "lassen machen", dadurch klettern sie im Kopf einige soziale Stufen höher, wodurch sie aber ihr Vertrauen in sich und ihre eigenen Fähigkeiten verlieren, sie verlieren dadurch auch eine gewachsene Identität. Ich muss sagen, ich bin froh, dass ich das kann. Ich gebe einige Sachen sogar wieder auf oder freue mich dann doch, dass es dafür Maschinen gibt, weil ich garkeine Lust dazu habe von früh bis abends nur rumzurödeln. Außerdem schmeckt der von mir gekelterte Apfelwein nicht wirklich gut...naja, dann lässt man es halt wieder.


Wortjan Sinner: "Ich würde auch, wenn ich das Geld hätte, da oben mit wirken. Nicht bei allem, doch bei dem, was ich im Alltag "vermisse". "

Könntest du das genauer erklären?
 
Sehr gut formuliert, Giacomo. Die moderne Entwicklung scheint eine innere Leere und Unsicherheit entstehen zu lassen, die mit diesem Kitsch vorübergehend gefüllt wird. Es stimmt, die Kulisse ist dabei für spielfilmisch geprägte Menschen wichtig. Das Denken versucht, durch eine visualisierte Inszenierng die Realität zu ersetzen, was aber nicht wirkt. Man fühlt sich dadurch nicht besser, man wird nie satt, wie Wortjan schreibt.

Es gibt nicht wenige Menschen, die ihre Arbeit als eine ungeliebte Last empfinden. Dieses emotionale Manko versuchen sie damit zu kompensieren, indem sie sich belohnen, sie kaufen sich etwas. Tatsächlich entsteht durch die neue Errungenschaft eine Art Glücksempfinden, allerdings hält es nicht allzu lange an.
Nach ca. drei Wochen ist das neue Eigentum dann mehr oder weniger "selbstverständlich" geworden. Es ist der neue Normalfall, es zu besitzen und zu benutzen. Die folgerichtig sich bald neu einstellende Leere muss dann bald wieder durch einen Neukauf gefüllt werden.
Das emotionale Gegenstück entsteht, wenn das - mittlerweile "Alltags" - Gerät dann "kaputt" geht, und das kann bei modernen, technischen Geräten bekanntlich schnell der Fall sein. Dann kommt der emotionale Knick, ja oft sogar Wut.

Wohin das auf Dauer führt, dass sieht man, wenn man ehrlich ist, an sich selbst. So mancher (insbesondere, wenn er nicht umgezogen ist) sieht sich nach Jahren in einem Haufen nutzlosem und verstaubendem Gerümpel. Ein Schrott, um den er sich selbst dann noch irgendwie kümmern muss, obwohl er ihn schon längst nicht mehr benötigt.
Aber selbst dann, wenn die Menschen einsehen, dass sie sich von einigem angesammelten Kram auch einmal trennen müssen, fällt es ihnen oft schwer. Man sieht es dann daran, dass sie versuchen es zu "spenden" oder zu "verschenken" - und sind dann stockbeleidigt, gibt man ihnen durch die Blume zu verstehen: Deinen Schrott brauchen wir/ich nicht, bringe es bitte zum Wertstoffhof.

Aus solchen Kreisläufen versuche ich seit Jahren auszubrechen, auch wenn mir das bisher erst in Ansätzen gelingt. Ich versuche, gar nicht erst so viel Besitz anzuhäufen. Eigene Anschaffungen versuche ich auf ein notwendiges Minimum zu beschränken. Ich überlege mir länger, ob ich das wirklich brauche. Lange Zeit ohne eigenen Computer und nur mit einer Handygurke, hat nicht zuletzt die Corona-Krise gezeigt, dass ich ohne diese Geräte leider nicht mehr auskommen kann. Es läuft sonst einfach zu viel an mir vorbei.
Andererseits bedeutet das aber nicht, ich müsste so eine Basis in Folge mit allerlei Peripherie aufblasen. Sicher, ein Drucker wäre nett - nur, für was? Für die paar Ausdrucke, die ich hin und wieder gerne hätte? Für die paar Dinger kann ich dann auch zu einem Dienstleister gehen, besser, billiger.

Denn damit ziehen sie uns dann die wirkliche Kohle aus der Tasche.
Das neue Smartphone? Billig, wenn nicht gar "kostenlos". Aber mit den Folgekosten ziehen sie Dir das Geld dann wieder aus dem Geldbeutel. Mein (etwas einfach gestrickter) Mitbewohner zahlt jeden Monat fast 100€ nur für das Handy. Gut, er hat das neueste Samsung und unbegrenztes Flat für alles - und wofür nutzt er es dann? Für Games und Spaßseiten, aber die vielgepriesenen Möglichkeiten der Hightech-Maschine nutzt er nicht einmal im Ansatz. Dann aber ist es aber nur ein teures Prestigeobjekt - "schau mal, ich hab das neueste Galaxy". Aber für knapp 1.200€ im Jahr könnte er sich auch ein preiswerteres Handy und einen fetten Goldring kaufen, wobei letzterer wenigstens seinen Wert behält.
Der Farbdrucker? Billig, aber die Nachfüllpatronen kosten schon fast soviel wie der Drucker selbst. Und nach spätestens zwei Jahren ist der Drucker dann "kaputt" - weil ein eingebauter Chip dies so befiehlt. Inzwischen hat man für die Tinte ein Mehrfaches ausgegeben.
Ehrlich gesagt: Da versaufe ich mein Geld lieber.

"Nützliche" Geschenke wohlmeinender und besser gestellter Familienmitglieder und Freunde lehne ich öfter auch mal ab.
Dann sind sie beleidigt, das ist ein Problem.
Denn um mich geht es ihnen im Grunde überhaupt nicht. Vielmehr wollen sie meist nur auf einfache Weise ihren Schrott los werden und sich dabei noch als Wohltäter fühlen.
 
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Könntest du das genauer erklären?

So wie ich aufgewachsen bin, ist ja heute schon "Museum" geworden. Es gibt nur noch zahlreiche zahlbare Museumsdörfer. Bei manchen haben zwar "Kinder" werktags Eintritt frei, doch mit 43 bin ich kein Kind mehr, und das, was ich früher "musste", dafür müsste ich heute "zahlen", statt etwas dafür zu erhalten. (bezahlen, damit du wie früher tätigen darfst)

Ich befinde mich "heute" in einer "Welt", die absolut nicht meine ist. Ich wünschte, ich wäre zumindest in den 50ern geboren, dann wäre ich jetzt über 60...
 
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