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heiter-sentimental

von der Trauer-Bewältigung

Dann tauchte ich auf aus den Tiefen jener blauen Gewässer, meine Hand um die Perle geschlossen, die mir die Muschel dort unten geschenkt hatte ... Perlentaucher ... Es sind Utopien. Denn jetzt bot sich mir ein fremdes Bild einer fremden Welt.

Die Stimme sprach: sei Odysseus. Denn jene Gesänge sind Trauer für dich. Schreite über den Hades wie Orpheus und verlasse die Unterwelt. Betritt festen Boden und wirf die Perle von einer Brücke zurück in die Tiefe: für dich war sie nicht gedacht.

Ich dachte: ein Traum ist es nicht. Ausleben, verarbeiten, begreifen und den Engeln folgen.
Ich dachte: Seufzerbrücken. Die am anderen Ende verschlossen sind.
Ich dachte: Perlenketten, deren Fäden rissen. Kleine Kugeln rollen in alle Welt.
Ich dachte. Wie war die Tiefe doch dunkel-sanft. Schmeichelnde kühle Wellen.

Und ich tauchte zurück und ließ mich von bunten Lebewesen gesund streicheln.
Danach mußte ich nicht mehr denken.
 
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zum Zeitgeschehen

Verschließ dich, alter Mensch!

Wenn du die Tür öffnest – dort, wo du jetzt bist -, riecht es überall nach Alter: aus den Teppichböden, den Wänden, auch aus den Steckdosen. Öffnest du die Tür nicht, riecht es mittags in deinem Kämmerchen nach Bohnensuppe, nach Kohl oder nach angebrannten Essensresten in Töpfen. Wenn du die Fenster öffnest, riecht es nach fauligen Gewässern oder Tier-Exkrementen. Öffnest du die Briefe in deiner täglichen Post, riecht es nach Geld-Forderung -, gar nach Abzocke, einem neumodischen Wort, dessen z – laut gesprochen – dir die ganze Misere lautmalerisch herüberbringt. Öffne nicht deinen Kleiderschrank, wenn du die verblichenen Rüschen nicht mehr sehen kannst, und nicht deinen Schmuckkasten, denn heutzutage trägt niemand mehr eine Brosche mit einer Gemme, wie du sie da drinnen vorfindest. Öffne auch nicht deine Handtasche, denn die auf den verblichenen Fotos, welche du mit dir herumträgst, sind auch längst schon verblichen. Wenn du deinen Schirm öffnest, weil du Schutz vor der Nässe suchst, wird ein heftiger Wind ihn dir davontragen. Und öffnest du deinen Mantel, weil dir warm ist, wird ein Bettler neben dir sitzen und dir den Mantel wegnehmen wollen.

Öffne auch nicht dein Herz: niemand will es mehr.
 
>> Homo hominem non lupus est << - von Unwahrheiten in Märchen


Das andere Rotkäppchen

Es war einmal ein kleines Mädchen, das sich aufmachte, die Großmutter zu besuchen. Unterwegs pflückte es Blumen, um sie der Großmutter zu schenken. Kuchen und Wein hatte es nicht. Der Wein blieb dem Vater, und der Kuchen war eingefroren. Aber die Blumen dufteten und würden die Großmutter erfreuen.

Als das kleine Mädchen ankam, war die Großmutter tot. Sie lag still und weiß und ganz klein in ihrem Bett.
Das kleine Mädchen weinte sehr. Nun gab es niemanden mehr, der es lieb hatte.
„Warum ist sie nur so klein?“
„Weil sie jetzt ein Engel ist, und alle Engel sind Kinder,“ sagte eine Stimme neben dem kleinen Mädchen.
Das Mädchen erkannte den Wolf.
„Du hast sie nicht gefressen?“ fragte es.
„Nein,“ sagte der Wolf traurig. „Wir fressen Menschen nicht. Sie sagen es uns nur nach.“
„Das ist schade,“ bedauerte das kleine Mädchen den Wolf. „Ich würde gern bei Wölfen leben.“
„Dann nimm dein rotes Käppchen und komm mit mir.“
„Ich habe kein rotes Käppchen.“
„Nun, wenn du schon kein Käppchen in der Farbe der Liebe hast, dann doch sicher einen anderen Schutz.“
„Ich glaube, sie haben mich nicht beschützt. Der Wein war im Vater, und der Kuchen war eisig. Ich habe nur diese Blumen.“
„Sie sind sehr schön. Wir werden dir einen Kranz flechten. Nimm sie und komm zu uns.“
Da ging das kleine Mädchen mit dem Wolf zu den Wölfen.

**

Unterwegs fragte es: „“Warum freßt ihr die Menschen nicht?“
„Weil wir sie fürchten. Wir leiden unter einer angeborenen Beiß-Hemmung. Sie legt uns den Zwang auf, uns fernzuhalten. Daher kennen wir die Menschen nicht, und oftmals fürchtet man sich vor dem Unbekannten.“
„Eigentlich bin ich da anders,“ meinte das kleine Mädchen. „Ich fürchte mich vor Dingen, die ich kenne.“
„Dann sind es böse Dinge,“ sagte der Wolf.
„Vater ist nur böse, wenn er den Wein trinkt.“
„Er ist böse, w e i l er den Wein trinkt.“
„Hast du auch Kinder?“ fragte das kleine Mädchen den Wolf.
„O ja,“ antwortete der Wolf stolz, „ich habe acht Kinder.“
„Und sind die alle immer bei Pflegemüttern?“
„Natürlich nicht. Sie leben mit ihrer Mutter und mir in derselben Wohnung.“
„Muß die Mutter nicht arbeiten gehen?“
„Erst, wenn die Kleinen größer sind. Dann geht sie aber nur einkaufen, damit alle genügend zum Essen haben.“
„Sind die Kinder dann allein?“
„Niemals. Wir haben Babysitter. Das sind die Mütter, deren Kinder noch ganz klein sind. Bei denen halten sich unsere Kinder einstweilen auf.“
„Trinkt ihr Väter auch Wein?“
„Nein. Denn das würde uns daran hindern, unseren Frauen Nahrung zu beschaffen, wenn sie sich mit den Kindern befassen -, und ihnen bei der Erziehung der Kinder zu helfen.“
„Bekommt bei euch auch immer zuerst der Vater das größte und beste Stück Fleisch?“
„O nein. Wir kennen keinen Futterneid. Bei uns bekommt jeder, auch wenn er nicht zur Familie gehört, den gleichen Anteil.“
„Ist es bei euch auch nicht so, daß nur das gilt, was der Vater sagt?“
„Nein. Wir haben keine Leit-Tiere. Wir sind glücklich darüber, irgendwie einsehen zu können, welche Handlung nötig ist.“
„Jeder kann das?“
„Jeder.“
„Auch die Kinder? Werden die nicht ständig bestraft?“
„Nein. Sie können tun und lassen, was sie wollen. Wird es mal zu aggressiv, entscheiden unsere Alpha-Tiere, ob die Kinder vielleicht zu wenig spielen.“
„Was sind Alpha-Tiere?“
„Sie sind keine Beherrschenden. Es sind die Weisesten. Die am besten wissen, wie wir uns schützen können.“
„Habt ihr auch Hunde?“
„Nein. Denn Hunde sind unsere früh gestorbenen Kinder. Ewig jung gebliebene Wolfskinder. Sie könnten den Menschen sonst nicht ertragen.“
„Und warum manchmal dieses Geheul?“
„Es ist sozusagen unser Telefon oder eine Art Rauchzeichen. Damit niemand verlorengeht.“
„Reißwolf, Fleischwolf, Wolfshunger ...“, murmelte das kleine Mädchen.
„Alles Irrtümer,“ beschwichtigte der Wolf. „Einer ihrer Philosophen soll gesagt haben, wir Wölfe verkörpern die egoistische Natur des Menschen. Sie kennen uns eben nicht.“
„Und Werwolf?“
„Die Verwandlung könnte einen unbewußten Wunsch ausdrücken, zu sein wie wir. Das Böse, das dabei herauskommt, ist vielleicht der Teufel, der sie davon abhalten will, allen Mitmenschen rote Käppchen aufzusetzen.“

„Es muß schön sein bei euch,“ seufzte das kleine Mädchen. „Hoffentlich kann ich nur recht lange bei euch bleiben.“
„Und wenn ich groß bin,“ fuhr es tapfer fort, „werde ich meinen Kindern diese roten Käppchen nähen – und ihnen meine wahre Geschichte vom guten Wolf erzählen.“



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aus: © runner:
„Die ganz anderen Tiergeschichten – Wahrheiten für Erwachsene“,
1995-1998, Seiten 51 - 55
 
Zum Abschluß meiner Stippvisite im Denkforum und im Anschluß an Rotkäppchens Wolf im vorhergehenden Beitrag hier noch ein paar weitere Zeilen aus meinen oben zitierten Texten
(Seiten 12 – 15).




Gedanken eines ewig jung gebliebenen Wolfes
im Februar 1995



Als die Hündin alt war, gaben sie ihr viel Zeit zum Nachdenken. Man konnte ja nicht ständig schlafen. Aber man konnte auch nicht mehr sehr weit laufen, weil dann das Atmen schwer wurde und man viel husten mußte. Man konnte auch nicht toben oder spielen, denn die Gelenke schmerzten doch schon sehr.

„Schwimmen kann ich noch, wenn sie mich lassen,“ dachte die alte Hündin. „Da bin ich doch gestern einfach in den Zierteich gesprungen, als sie mal wegsahen. Mitten im Winter. Ich hatte sofort gemerkt, daß da kein Eis drauf war, und hab mich einfach fallenlassen. Es war herrlich!“

Die Hündin leckte sich das an manchen Stellen noch immer nasse Fell und sah – wie häufig in der letzten Zeit -, daß dieses mehr und mehr das Rötliche verlor und grau wurde.

„Hoffentlich färben sie mich nicht,“ dachte die Hündin. „Ich bin dagegen, graues Haar zu färben. Das täuscht doch über Alter nicht hinweg. – Alter war’s ja auch, daß ich den Zierteich nicht allein verlassen konnte, als nach dem Rumpaddeln die Puste wegblieb. Ein Glück, daß sie mich grade da entdeckten.“

Die Hündin lachte vor sich hin. „Wie die sich graulten, in den Teich zu springen. Bei dieser Kälte. Und sich naß zu machen. Mitten im Winter.“

Die Hündin gähnte ein bißchen. Nicht so sehr aus Müdigkeit. Eher wegen des Sauerstoffs zum Denken.

„Und wenn sie erst mal träufelig sind, entstehen viele kleine Löcher. Einst ausgefüllt von Interesse, Weitsicht, Mitleid. Jetzt halbhohle Zentren ohne Lebensfreude. Die ihnen die Augen nach innen drehen, wo sie nur noch sich selbst sehen können. Gefühl, das dann noch bleibt, ist nur der Zorn, allein zu sein.“

Die Hündin war froh, daß sie früher zu den Wölfen gehörte. Die hatten ihr beigebracht, jung zu bleiben auch im Alter. Freude zeigen zu können (Hunde wedeln immer), Humor zu haben (Hunde schwimmen manchmal im Winter), auf andere zuzugehen (auch dann, wenn sie gelegentlich nach ihnen schnappen) – und nur so viel zu fressen, wie man ihnen vorsetzt. Und nachdenklich zu bleiben. Und vordenklich.

„Vordenklich?“ fragte sich die Hündin. „Ich glaube, dieses Wort ist nicht bekannt. Aber denke ich nicht vor, wenn ich von Anfang an bemüht bin, mein letztes Jahr auch zu genießen? Das letzte meines Lebens wie das vergangene letzte.“

Im vergangenen Jahr war die Hündin vierundachtzig Menschenjahre alt geworden.

„Nur,“ dachte sie, „ist Genuß in Einsamkeit verwerflich. Das sind doch nur Genüsse, die man verstecken muß. Wie geklautes Brot. – Die erlaubten Genüsse -, die schmecken. Das sind die, die sie einem hinstellen. Die Kontaktaufnahme-Genüsse. Da wedelt man und hopst, so gut es geht, und bellt – und kann es nicht erwarten. Die Hand, die sich zum Futternapf bewegt, ist wie die Hand, die einem Kind gegeben wird. Da verlieren sich die Größenunterschiede. Die Kontakt-Momente sind sehr intensiv. Und das macht Alter schön.“

Die Hündin mußte sich kratzen. „Es juckt mich nicht, daß ich alt bin,“ freute sie sich. „Weil ich eben vordenklich war. Mit dem Genießen. Das immer noch irgendwie möglich ist, solange man sich den Kopf beweglich hält.“

Dann legte sie ihren Kopf auf die Vorderpfoten, um ihn sorgfältig zu schonen. Gegen die kleinen Löcher. Gegen die Inkontinenz des Geistes.
Und gegen Perseverationen über die eigene Person -, die eine Kontaktaufnahme nicht mehr zulassen würden.


(Sie starb 1996. Noch im Sterben wedelte sie.)
 
sentimental

Wenn ich runne, denke ich. Was sonst nicht unbedingt immer der Fall ist. Manchmal ver-döse ich auch das Leben, versinke in Tagträume à la imaging und sehe Szenen von einer Wolke aus. Es kommt auch vor, daß ich Denken bewußt ausschalte, um Erlebtes nicht Traum werden zu lassen, nicht unbewußtes Weitergeschehen. Dann kann es vorkommen, daß man mich zum smilen auffordert, um sympathisch zu erscheinen. Aber Schein ist für mich nicht Sein.

Heute dachte ich an meine – schicksalsbedingt selten heitere – Mutter und an die Zeiten, als wir gemeinsam auf der Bühne standen und sie die „komische Alte“ spielte, die sie gar nicht war. Was schien dagegen die Rolle des jungen Liebhabers, in der man nur mit dem Dialekt nicht zurecht kam, den man laut Bühnen-Script sprechen sollte. Es gab noch Fotos aus der Presse: die Maskenbildnerin hatte aus meiner Mutter eine Identität geschaffen, wie man sie sich manchmal wünscht, wenn man die eigene verleugnen möchte. Aber immer hinterher, wenn man den Applaus des Publikums genossen hatte und den Heimweg antrat, der ein wenig bergauf führte, war man ja wieder man selbst. Da gibt es kein Entfliehen. Nun beherrschte uns die Müdigkeit. Nun eilten wir Morpheus entgegen. Morgen war wieder Theaterprobe -, morgen fand wieder eine Aufführung statt, bei der man die Menschen glauben machen soll, daß das, was sie sehen, Kunst sei. Und ist doch nur Theater. In dem meine traurige Mutter die Zuschauer zum Lachen bringt.
 
AW: heiter-sentimental

Auch Clowns sind meist nachdenkliche, sogar oft traurige Menschen, Runner.
Aber sag mal, hat jemand von dir verlangt, dass du dein Gesicht zu einer Maske verziehst, um Schein zu wahren? War er nicht eher so gemeint, dass ein Lächeln der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen sein könnte?

Ich finde es gut, dass du dein Wort gebrochen hast, der runner-up kann nur so zum Meister werden, durch Sturheit allein, gewinnt er nicht mal einen Blumentopf, um es mal sportlich zu sagen.
Mir gefallen deine geträumten Geschichten sehr... die Tiermärchen für Erwachsene weniger, die sind mir zu gewollt, mit zu viel Moral auf einem Haufen versetzt.. aber das willst du vielleicht nicht hören, vielleicht willst du gar nichts hören...:saugen:
 
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