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Haiku

Miriam

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26. Juni 2005
Beiträge
9.722
Da mich diese kürzeste aller lyrischen Formen, immerwieder beschäftigt, möchte ich hier versuchen einiges zum Haiku zu sagen - und auch Beispiele dafür zu bringen.

Was macht die Faszination des Haiku eigentlich aus?

Für mich sind es zweierlei, die mich immerwieder zum Haiku zurückführen: eindeutig seine kurze Form, die strengen Regeln folgt, die zugleich sehr aussagekräftig ist. Und nicht weniger, die mir fremde Welt, die sich durch das Haiku hier eröffnet - und die ich doch als Teil einer fremden und faszinierenden Kultur empfinde, die mich neugierig macht.

Zur Einführung einige Sätze von Dietrich Krusche über das Haiku.

"Haiku - das ist die kürzeste aller lyrischen Formen, die wir in der Weltliteratur kennen, dreizeilige Gedichte, im 16. und 17. Jahrhundert in Japan ausgebildet und nur dort bis heute überliefert in lebendiger Tradition.
Die klare Poesie und die nur vermeintlich einfache Aussage ist sinnlich unmittelbar nachvollziehbar - wenn man sich darauf einläßt und den Abstand zu überwinden versucht, der unsere "westliche" Kultur von Japan trennt.

Chinesischer Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus leben im Haiku fort, vor allem jedoch ist diese Dichtung geprägt vom japanischen Zen, der im Haiku seinen literarischen Ausdruck findet."


In der Folge werde ich, alternierend mit den Haikus, immerwieder einige Erläuterungen zu dieser lyrischen Kurzform bringen.
Nur eines noch : es gibt auch deutsche, sehr schöne Haikus.

Ich werde auch von diesen Haikus einige hier bringen.


Vollmond im Herbst -
schattenhafter als Bäume und Gras
die Menschenschatten.

Baishitsu (1768 - 1852)


An einem Abend im Herbst
ist es nicht leicht,
ein Mensch zu sein.

Issa (1763 - 1827)


Ein kleines Mädchen
lehrt seine Katze tanzen
im Frühlingsregen.

Issa

Vorläufig kurz zu den formalen Regeln des Haikus: es besteht immer aus...

... "drei Wortgruppen, die zusammen nicht mehr als siebzehn Silben umfassen....Die Verteilung der Silbenzahl...ist fünf-sieben-fünf." (Dietrich Krusche)

Ob da doch noch Abweichungen zu finden sind, kann ich jetzt nicht sagen.

Ausserdem gibt es die inhaltlichen Regeln die einzuhalten sind, denn nur dann ist ein solches Kurzgedicht, tatsächlich ein Haiku.

In einem Haiku soll immer ein Naturgegenstand erwähnt sein - dazu gehört aber nicht die menschliche Natur. Ausserdem soll sich das Haiku auf ein einmaliges Naturereignis oder Natursituation beziehen und drittens, soll das Geschilderte in der Gegenwart stattfinden.

Diesen ersten Beitrag möchte ich mit einem deutschen Haiku beenden:

In der andern Welt
wünsche ich mir einen Fluß
und ein paar Bäume.

Michael Groissmeier (geb. 1935 in München)
 
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Wahrscheinlich komme ich morgen nicht dazu, einiges hier zu ergänzen. Also schreibe ich heute noch etwas zum Haiku.

Erst zitiere ich wieder Dietrich Krusche:

"Durch drei Jahrhunderte haben alle großen Dichter Japans und mit ihnen alle kleinen und kleinsten, haben praktisch alle Japaner der in Frage kommenden Klassen der Gesellschaft Haiku gedichtet: haben Haiku-Konstellationen aufgespürt in ihrem Leben, Haiku-Erfahrung eingesogen, Haiku-Silben ausgeblasen, den Haiku-Schlag geführt nach dem Sein der Welt. Haiku war Kunst und Religion, Sport und Unterhaltung - Haiku wurde zu einer gesellschaftlichen Institution."

Durch die Regeln die ich bereits erwähnte in meinem ersten Beitrag, ergaben sich so zu sagen typische Stimmungen, Empfindungen, die fast schon die Jahreszeiten symbolisierten, in deren Kontext sie erwähnt wurden:
So war Einsamkeit oft in Zusammenhang mit dem Winter erwähnt, der Tod eher mit dem abnehmenden Tagen im Herbst, den Frühling verbinden die Haikudichter eher mit einer gewissen Melancholie, etc...

Aber auch den Pflanzen oder den Tieren begegnen wir immerwieder, verbunden mit gewissen Jahreszeiten: die Kirschblüte im Frühjahr, die Chrisantheme gibt symbolisch die Stimmung des Herbstes wieder, der Sommer wird mit der Libelle, den Schmetterling, den Kuckuck, assoziiert.

Durch die Kürze des Haikus, aber auch durch das Bestreben sich auf das Wesentiche zu beschränken, werden die Begriffe nur als Grundworte der Sprache eingesetzt, ohne sie zusätzlich auszuschmücken durch "künstich-schöne" Worte.
Es entsteht durch diese Reduktion auch eine gewisse Stereotypie, denn die Worte die ein Empfinden oder eine Natursituation wiedergeben sollen, sind in ihrer Anzahl begrenzt. Von dieser sehr eingeschränkten Wortwahl, ist man im Laufe der Zeit etwas abgewichen, man stellt fest, dass in den späteren Haikus ein reicheres Vokabular benutzt wird.

Jetzt wieder einige Beispiele:

Welch Baumes Blüte
diesen Duft verströmt,
ist mir nicht bekannt.

Basho (1644 - 1694)


Des Mondes Schimmer
Die vier Tore, vier Lehren
sind dennoch nur eins.

Basho


Herbstnacht -
das Loch in der Tür
spielt Flöte.

Issa (1763-1827)
 
Einige Sätze zwischendurch zum Haiku, wieder von Dietrich Krusche:

"Die Kürze des Haiku hat zur Folge, daß jedem einzelnen der Worte darin eine große Bedeutung zukommt. Nun stehen die einzelnen Worte in der japanischen Sprache überhaupt in einer anderen Beziehung zueinander als die Worte in den indo-europäischen Sprachen. Die Nomina haben keinerlei Flexion* - für Sonderfälle gibt es ein - selten gebrauchtes - Plural-Suffix, und die Verben zeigen zwar eine Zeitstufe und eine Aussageweise an, aber keine Person und keine Einzahl oder Mehrzahl. Das bedeutet, daß die Verknüpfung der einzelnen Worte untereinander gleichsam loser ist als in einem Satz indo-europäischer Sprachen. Sie folgen einander in der Reihenfolge, in der sie ihrer Wichtigkeit beziehungsweise ihrer assoziativen Abhängigkeit nach dem Sprechenden vor Augen stehen....

...So mehr assoziativ als grammatisch-logisch verbunden, behaupten die Worte ihr Eigenrecht stärker, sind nicht eingeordnet in einen alles bezwingenden, alles miteinander in Beziehung setzenden Aussagebogen. Viele japanische Sätze der Umgangssprache enden in einem Anakoluth, das heißt, sie schwingen aus, ohne einen syntaktischen Abschluß gefunden zu haben, etwa mit einem schwebenden >>aber...<<."


*Das mit dem Fehlen der Flexion lässt mich träumen : ob ich nach Japan auswandern soll?
Aber wie ich das Leben kenne : da erwarten einen andere Sprach-Schikanen.

Jetzt noch einige Beispiele von Haikus:

Ritt übers Moor.
Ich lenke das Pferd dorthin,
wo der Kuckuck ruft.

Basho (1644 - 1694)

Aber Basho kann auch ganz anders dichten:

Flöhe, Läuse -
die Pferde pissen nahe
bei meinem Kissen.

Basho

Wie wäre es, wenn wir uns auch an diese Kurzform der Lyrik heranwagen würden? Auch wenn wir nicht ganz streng alle Regeln folgen sollten, wäre es doch reizvoll?

Ich wage mal einen Anfang:

Mein Tomatenstrauch
mit seinen sieben Früchten -
Eine ist blassrot.

Miriam
 
Noch einige Haikus -

Wo ich lebe,
gibt's Vogelscheuchen
mehr als Menschen.

Chasei (1777-1846)


Fern doch erahnt:
Menschen mit kaltem Blick -
Lieb mir die Vogelscheuchen.

Miriam


Der Pflaumenblütenzweig
gibt seinen Duft
dem, der ihn brach.

(Frau) Chiyo-ni (1701-1775)


Chiyo-ni, die Düfte
und Farben deiner Verse
sind noch nicht verblasst.

Miriam


Erst wenn das Laub fällt,
werden sie sichtbar am Zweig -
die neuen Knospen.

(Michael Groissmeier - geb. 1935)



Herbstknospen am Zweig -
Seltsam: werdet ihr aufblühen
Oder vertrocknen?

Miriam (sag nicht wann ich geboren bin... :zunge4: )

Dies, um Euch Mut zu machen, es auch mal mit einem Haiku zu versuchen...
 
Die Beschäftigung mit Poesie verlagerte sich nach dem Bürgerkrieg in Japan (siebzehntes Jahrhundert) auch in den Kaufmannskreisen. Vor dem Bürgerkrieg, waren nur die Fürstenhöfe Zentren der Dichtung gewesen.

Dabei wurde nun die Poesie pragmatischer, gewann oft humoristische, bildhaft-farbige Aspekte. Eines dieser Beispiele habe ich bereits im vorigen Beitrag gebracht, ich wiederhole dieses Haiku hier:

Flöhe, Läuse -
die Pferde pissen nahe
bei meinem Kissen.

Basho (1644 - 1694)

Nun möchte ich einiges über Basho schreiben, der ja ein erneuerer des Haiku war.
Eigentlich stammte Basho aus einer Samurai - Familie, und verbrachte auch den grössten Teil seines Lebens in der Hauptstadt Edo. Doch es gab auch lange Zeiten in denen er durch Japan wanderte, den Kontakt zum Volk suchte und zusammen mit Menschen aller Schichten dichtete. Basho vertrat die Ansicht, dass Poesie nicht "artistisch überfeinert" sein sollte - sondern natürlich und frisch - und auch wechseln sollte von Jahr zu Jahr. Also ein Bemühen, weg von der alten Tradition, von ihrer Strenge, zu einer viel lebendigeren, freieren Form.

Auch ist es haupsächlich Basho und seiner neuen Einstellung zu verdanken, dass der Einfluss des Zen in den neuen Haikus spürbar wird. Anhänger des Zen-Buddhismus, zog Basho in Priesterkleidung durch das Land und wurde wie ein Heiliger verehrt. Es ist also die Auffassung von Welterkenntnis und Erleuchtungserfahrung, die nun das Haiku prägen, aber das alles kommt durch diese so reduzierte Form, einfach daher.

Nun ein Zitat von Dietrich Krusche:

"Zen lehrt, daß Erleuchtung erfahren wird in einem Blitz der Intuition, augenblicks ganz - nicht durch Arbeit des Bewußtseins, Studiumtheologischer Lehren oder Befolgung mönchischer Lebensregeln. Jede Art von lebendig-sinnenhafter Wahrnehmung kann der Auslöser zu solcher "Erkenntnis" sein: ein Geruch, ein Laut, ein Anblick - oder der Schlag mit dem Stock, wie ihn Zen-Schüler als Erleuchtungshilfe übergezogen bekamen. Dem Weltverständnis des Zen nach enthüllt sich die Welt aus sich selbst, wird nicht von außen erhellt. Das gibt dem Zen seine Sinnenhaftigkeit, seine Vertraulichkeit mit dem Konkreten."

Na, das mit dem Stock (ich wage es mir vorzustellen welche Körperpartie davon betroffen sein könnte) - gefällt mir persönlich nicht.
 
Nun noch einige Beispiele:

Grabhügel wanke!
Meine Klagestimme weint
wie herbstlicher Wind

Basho (1644-94)


Oh, klarer Herbstmond -
kein Gedanke an das Meer,
kein Blick für den Berg

Mukai Kyorai (1651-1704)


Herbsanfang -
was sieht der Wahrsager
erschrockenen Blicks?

Buson (1715-1783)


Der Gott ist fern.
Die welken Blätter häufen sich
ums verlassene Haus.

Basho


Ritt übers Moor.
Ich lenke das Pferd dorthin,
wo der Kuckuck ruft.

Basho


Morgendämmerung -
Nebeldunst vom Berg her
kriecht auf meinen Tisch

Issa (1763-1827)


Vom Tisch der Nebel
sich verbreitet im Raum -
kriecht mir nun zu Kopf

Miriam


Die Quell des Himmels
ergießt sich in den Weiher
füllt ihn mit Sternen

Michael Groismeier ( geb 1935 in München)
 
Hügel und Täler
als ob ein Drache läge
in grünen Wellen

*

Fach um Fach geleert,
Schubladen durchstöbert -
doch du warst nicht drin

*

Der Weg ist das Ziel,
da meine Ellenbogen
die Breite messen

*

Feuerwerkszauber!
im schrägen Schein der Sonne
funkeln die Wellen

*
 
In erster Linie einen Dank an Qanape, die hier ihre schönen Haikus eingesetzt hat - ohne sie zu signieren!

Besonders gefällt mir:

Hügel und Täler
Als ob ein Drachen läge
in grünen Wellen

Dann gibt es doch noch einige der deutschen Haikus die ich besonders mag, und die ich nicht unerwähnt lassen möchte. Ich mag im Besonderen die Haikus von Michael Groissmeier

Ich sei tot, träum ich,
und träumte, ich sei tot und
träumte, ich lebte.


Mein Schatten eilt mir voraus,
bleibt zurück - manchmal hält er
gleichen Schritt mit mir.


Was ich da sehe,
wenn ich die Augen schließe,
ist nur das wirklich?


Was ich nicht sehe,
existiert das nun
oder existiert es nicht?


Wasser übertönt,
was mein Spiegelbild
immer wieder mir zuruft.

Wie schon oben erwähnt, diese Haikus waren alle von M. Groissmeier.

Und ich wage doch noch einige von mir hier einzusetzen:

Auf der Fensterbank -
Der Zweig hat sich entschlossen,
Und spielt Frühling im Herbst.


Auf meinem Bildschirm,
Der Schatten des Zweiges -
Seltsame Paarung.
 
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