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Eine Wintergeschichte

PlacidHysteria

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5. März 2017
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1.992
Das Mädchen freut sich. Denn heute ist der große Tag. Denn heute schneit es. Sie malt sich bereits aus, was sie denn tolles machen könnte, dort draußen im Schneegestöber. Noch liegt sie in ihrer wohlig-warmen Decke eingehüllt wie eine Raupe im Kokon. Doch schon jetzt packt sie die Euphorie, die extravagante Vorfreude auf den baldigen Kontakt mit den Schneesternchen, die wie Mandalas aussehen und die das Mädchen bereits gespannt am Fenster beobachten konnte. Im Stillen stellt das Mädchen einen Plan vor ihrem geistigen Auge auf die Beine: Sie wird aufspringen, sich auf dem Weg zur Tür in einer Bewegung den dicken Anorak schnappen und sich schwungvoll in die am Stuhl hängende Skihose werfen. Dann die Tür öffnen, die Stufen hinunter zum Flur trippeln und ihre knöchelhohen Stiefel anziehen. Die Schnürsenkel würde sie offenlassen. Das Mädchen kniff die Augen zusammen und lächelte, als wäre sie eine Geheimagentin, die gleich mit ihrem Plan die Welt retten würde. Also springt sie auf und spürt wie das Adrenalin förmlich in ihr emporsteigt, wie der Schokobrunnen an Weihnachten. Das Anziehen ging kinderleicht, doch der Anorak machte Probleme: Er riss auf, als das Mädchen ihn ungestüm vom Schreibtischstuhl herunterriss. Doch die Vorfreude ließ das Mädchen vergessen. Sie schwang sich auf die Treppe und donnerte förmlich ins Erdgeschoss. Schuhe an, Tür auf. Endlich. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet? Monate? Jahre? Nein.

Sie stapfte hinaus in den Schnee und fühlte.... die Kälte. Es war kälter als sie dachte. Der Anorak schirmte nur minder die Kälte ab. Die Schneeflocken waren plötzlich wie kleine Spinnen und andere Krabbeltiere, die hinten in den Kragen des Mädchens fielen oder vorne in die nun erneut zugekniffenen Sehschlitze segelten. Ein Wind frischte die minus 5° weiter auf. Feuchtigkeit sammelte sich in den Schuhen. Ihre zu dünnen Socken ließen mehr rein als raus. Sie hatte noch nichts gegessen und war zu schnell aufgestanden. Nun fühlte sie den Schwindel. Ihr wurde leicht übel. Ihr war kalt. Zu kalt. Plötzlich: Lachen.

Ein Junge kam lachend angelaufen und pfefferte dem Mädchen einen Schneeball auf den Hinterkopf. Es war leichter Schnee. Ganz weich. Doch er schmolz rasch und rieselte in einem Rinnsal ihren Rücken hinab. Sie drehte sich um und konnte einem zweiten Geschoss gerade noch ausweichen. Der Junge sprang zu ihr und warf sie in den Schnee. Ihr Körper landete weich. Auf ihr der Junge. Er rollte sich schallend lachend von ihr herunter. Ihr war durch den Umsturz die Luft entwichen. Die kalte, trockene Winterluft spendete kaum genug zum Atmen. Ihr Körper kühlte auf dem Schneebett langsam aber sicher aus. Sie musste sich rühren! Jetzt! Sofort! Ächzend stand sie auf und torkelte langsam zurück zum Haus. Gepeinigt, Gekühlt, Genässt, Gebrochen.
 
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