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Die vergessene Jugend der Pariser Vorstädte

Miriam

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26. Juni 2005
Beiträge
9.722
Nacht für Nacht brennen immer mehr Pariser Vorstädte. Der Flächenbrand breitet sich nun auch auf andere französische Städte aus.
Nicolas Sarkozy, Frankreichs Innenminister, reagiert indem er sagt, er würde "mit dem Kärcher" (also dem Hochdruckreiniger), dem "Gesindel" zu Leibe rücken.

Ist das die Reaktion die es verhindern könnte, dass der Flächenbrand sich weiter ausbreitet? Wohl kaum.

1990 warnte Francois Mitterand:

Welche Hoffnungen sollte ein junger Mensch hegen, geboren in einem Wohnviertel ohne Seele, der in einem hässlichen Gebäude wohnt, umgeben von anderen Hässlichkeiten, von grauen Mauern in einer grauen Umgebung, den ein graues Leben erwartet, Mitten in einer Gesellschaft, die es vorzieht ihren Blick abzuwenden und erst eingreift, wenn man böse werden kann oder verbieten?"

Die Problematik war also erkannt, aber es wurde nichts unternommen um diese Mißstände zu ändern.
Das Hauptproblem wurde unter anderem von El Pais so zusammengefasst: "Paris verkündet stolz ihren Gleichheitsideal, aber verbannt die Geächteten in Ghettos, weit weg vom Blickwinkel der Mehrheit."

Man sollte nicht übersehen, dass diese vergessene französische Jugend der Banlieus, hauptsächlich aus den Enkelkindern der Imigranten von einst besteht. Von einer Regierung zur nächsten mehrten sich die nichtgelosten aber bekannten Probleme - und die Politiker schauten weg.
Welche sind die Hauptprobleme die so sträflich vernachlässigt wurden? die Integration, die Bildung, die Arbeit und der schändliche Städtebau der Vororte.

Nicolas Sarkosys Reaktion ist politisch und menschlich unmöglich, und die Antwort darauf ist leider die Eskalation der Gewalt, und auch die Dummheit. Denn Opfer der Flammen sind auch ganz zerbrechliche oekonomische Strukturen der Banlieus.

Dabei steht Frankreich ja wieder in der Vorkampagne zu den Präsidentschaftswahlen, und die Liste der Kandidaten beträgt etwa 20 Namen!
Es wäre Zeit sich in Frankreich an die Präsenz in 2002 von Jean-Marie Le Pen im zweiten Wahlgang zu erinnern, um pragmatisch und problembezogen zu handeln.
Es wäre auch gut, wenn Deutschlands Politiker sich vergegenwärtigen würden, dass auch dieses Land ein Imigranten- und Integrationsproblem hat, welches mit Sachlichkeit gelöst werden muss.
 
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Miriam schrieb:
1990 warnte Francois Mitterand:

Welche Hoffnungen sollte ein junger Mensch hegen, geboren in einem Wohnviertel ohne Seele, der in einem hässlichen Gebäude wohnt, umgeben von anderen Hässlichkeiten, von grauen Mauern in einer grauen Umgebung, den ein graues Leben erwartet, Mitten in einer Gesellschaft, die es vorzieht ihren Blick abzuwenden und erst eingreift, wenn man böse werden kann oder verbieten?"

Da ist viel dran, allerdings will das keiner hören.


Aufruhr in den Städten - Hintergründe der Eskalation in den französischen Trabantenstädten:
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21282/1.html

Unruhen in Pariser Trabantenstädten:
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21258/1.html
 
Schwierige Vergleiche

jetzt begebe ich mich auf gefährliches Terrain, aber wie soll man denn sonst weiter kommen, wenn nicht mit Vergleichen?

Meine ganz unvollkommenen Kenntnisse beziehen sich auf die Stadt San Francisco, die ich Anfang/Mitte der 90er kennenglernt habe.
Kritisiert wird die Kasernierung der afrikanischen Zuwander in Banlieus. Ich vermelde hiermit, dass es in San Francisco Versuche gab, dies anders zu machen. Die Sozialbauten, die so genannten "projects", wurden teilweise mitten in gute oder jedenfalls nicht zu schlimme Wohnviertel gesetzt. Klar, dass in diesen projects 99% Schwarze wohnen. Nun kann man dort nicht sagen, dass diese Menschen morgens aufwachen und auf graue Mauern schauen, oder wenn sie das tun, dann brauchen sie doch nur 100 Meter zu laufen und schauen auf die Häuser einer der schönsten Städte der Welt. Trotzdem sind dies Gegenden, die man als Weißer meidet. Der Unterschied zu den Banlieus ist, dass man nicht eine ganze Vorstadt meidet, sondern nur zwei Blocks und dann ist wieder alles gut.
Dann gibt es in San Francisco noch einen Stadtteil, in dem 250 000 Einwanderer unter sich leben. Und zwar so konsequent, dass dort die meisten Beschriftungen der Geschäfte nicht in englisch sind und die Leute unter sich ebenfalls oft nicht englisch sprechen. Haben es diese Menschen einfach gehabt? Gewiss nicht. Die Geschichte ihrer Untertdrückung ist lang, die Liste der Ungerechtigkeiten, die gegen sie verübt wurden, insbesondere im Zusammenhang mit den Geschehnissen des zweiten Weltkrieges, ebenfalls. Waren sie reich? Die meiste Zeit nicht. Verbürgt ist ein Leben unter beengtesten Verhältnissen, in lichtlosen Gassen und schwierigsten Bedingungen.
Dennoch kann man nun konstatieren, dass ihr Stadtviertel von Weißen und Touristen nicht gemieden wird - im Gegenteil ist es eine Touristenattraktion, besucht täglich von Abertausenden. Sicher gibt es ein paar Straßen, durch die man nach Einbruch der Dunkelheit nicht leichten Herzens durchspaziert, aber eine extreme Kriminaltäts- und Gewaltrate ist dort meines Wissens nicht zu verzeichnen.
Ich spreche natürlich von Chinatown, San Francisco.

Kann man in Chinatown von Integration sprechen? Nein. Ist San Francisco mit der Integration der Schwarzen durch die "projects" weitergekommen? Nein.

Auch mache ich darauf aufmerksam, dass in diesen Fällen Religion oder Ideologie so gut wie keine Rolle spielen. Oder?

Ich habe auch Stimmen gehört in San Francisco, die sagten, was das für eine blödsinnige Idee sei, die projects mitten in gute Viertel zu setzen. Kann es sein, dass diese Frage mit dem Problem viel weniger zu tun hat, als man annimmt?
Müsste nicht in Chinatown dann schon lange die Gewalt explodiert sein?
 
Hallo Robin,

Vergleiche sind immer gut, denn sie sind in jeden Fall Denkanstöße. Aber wir werden - besser gesagt, ich werde diesen Vergleich nicht ganz vollziehen können, denn es fehlen mir natürlich konkrete Daten, wie Prozentsatz der Arbeitslosigkeit, oder auch Bildungsprogramme, etc...

Ich denke auch, dass der große Unterschied darin besteht, dass die USA sowieso ein Imigrantenland ist. Hier leben unterschiedliche Ethnien oder Völker in einen verhältnismässig jungen Staat, der erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert als USA gegründet wurde.

Was in den USA auffiel, ist tatsächlich die relativ leichte Integration. Und doch auch dies gillt zum Teil nichtmehr, denn dieser grosse Schmelztiegel hat einen enormen Zuwachs an illegalen Einwanderer. Ich denke, dass hier die tatsächlichen Brennpunkte bestehn.

Zu deinen konkreten Beispiel, San Franzisco, kann ich nichts sagen, denn tatsächlich unterscheiden sich die Staaten (und die Städte) der USA durch die Herkunft ihrer Bevölkerungsgruppen.

Der grosse Unterschied aber zu Frankreich besteht in der Tatsache, dass hier diese am Rande gedrängte, unterprivilegierte Bevölkerung, sich zurecht als französisch versteht, von den anderen Franzosen aber meist nicht als solche angenommen wird.
Es ist sehr zu befürchten, dass diese Bevölkerung, der die Integration nicht ermöglicht wurde, sich nun eine andere Identität suchen wird: die muslimische. Und das wird dann nicht der friedliche Islam sein, dafür sorgen anscheinend schon jetzt islamistische, also extremistische Gruppierungen.
 
Ich wollte die USA eigentlich überhaupt nicht als Beispiel für bessere Integration hernehmen. Im Gegenteil.
Was ich andeuten wollte ist, dass die beste Chance für Bevölkerungsminderheiten darin besteht, sich auf ihre eigenen Kräfte zu besinnen und nicht auf Hilfe von außen (Bildungsprogramme etc.) zu warten. UNd ich wollte andeuten, dass den Asiaten in den USA dies eventuell gelungen ist.
Auch von intellektuellen Afroamerikanern wird kritisiert, dass sich die eigenen Leute immer nur auf die Opferrolle besinnen und - statt aus ihren "Revieren" lebenswerte Orte zu machen - ihre Energie lieber in eine gewalttätige und destruktive Kultur stecken.

Ich kenne die Verhältnisse in den Banlieus nicht - und als reicher, außenstehender Weißer sollte man sich vielleicht mit Ratschlägen zurückhalten. Aber ein sich wiederholendes Muster deutet sich doch an, nämlich dass von außen herangetragene Hilfe und guter Wille nach innen einfach verpuffen. Sicher ist die französische Regierung zu kritisieren und ein Scharfmacher wie Sarkozy heizt die Dinge noch mehr an. Aber ich stelle die Frage, ob jemand eine Lösung dafür hat, wenn sich die internen sozialen Kommunikations-Strukturen so von dem des Restes unterscheiden, dann dennoch von außen sinnvoll intervenieren zu wollen?
Anlässlich der Unruhen von Watts 1965 (die um einiges gewaltätiger waren als die französischen) schrieb Thomas Pynchon sinngemäß, dass hier zwei Kulturen nebeneinander lebten, die sich nicht verstanden.
The two cultures do not understand each other, though white values are displayed without let-up on black people's TV screens, and though the panoramic sense of black impoverishment is hard to miss from atop the Harbor Freeway, which so many whites must drive at least twice every working day. Somehow it occurs to very few of them to leave at the Imperial Highway exit for a change, go east instead of west only a few blocks, and take a look at Watts
UNd ist in diesem statement schon Ironie herauszuhören?
The neighborhood may be seething with social workers, data collectors, VISTA volunteers and other assorted members of the humanitarian establishment, all of whose intentions are the purest in the world. But somehow nothing much has changed. There are still the poor, the defeated, the criminal, the desperate, all hanging in there with what must seem a terrible vitality.

Ich glaube auch nach wie vor, dass dies wenig mit dem Islam zu tun hat. Zwar hat sicher auch die Nation of Islam-Bewegung des Malcom X zur Radikalisierung der Schwarzen in den USA beigetragen. Doch entscheidender ist sicher die fatale Neigung, Destruktion und Defäetismus den Vorzug zu geben vor Rückbesinnung auf eigene Stärke.
Und dies könnte sich in Frankreich wiederholen.

Ich weiß nicht, was es heißt, wenn sich die Menschen in den Banlieus als Franzosen fühlen. Wenn es nur heißt, "Wir sind Franzosen, also kümmert Euch um uns", fände ich das fragwürdig.
 
Der Philosoph Peter Sloterdijk über die Ursachen der Gewalt in Frankreich

In einem Gespräch mit Katrin Seibold, äusserte sich der Philosoph Peter Sloterdijk zu den Ursachen der Unruhen in Frankreich, die neben zahlreichen Verletzten, nun auch ein Todesopfergefordert haben. Unter anderem sagte er:

"Es gehört auch eine echte Verelendung dazu, und man muss in der Tat sagen, dass der französische Staat sich einer schweren Unterlassung schuldig gemacht hat, dass er die seit Jahrzehnten nervösen Pariser Banlieues aus seiner Sozialpolitik doch weitgehend ausgeschlossen hatte"

Der ganze Kulturzeitbeitrag von Katrin Seibold unter:

http://www.3sat.de/kulturzeit/themen/85233/index.html
 
Ich habe zwar nicht viel davon mitbekommen was da eígentlich passiert, aber was ich so höre das ist arg! Ich bin froh, dass es so etwas nicht in Ö$D gib!

Ihr auch?
 
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Hektischen Aktionismus in Situationen in denen eigentlich durchdachte und ruhige Entscheidungen fallen sollten, das kennen wir, denke ich, alle.
Wenn dieser Aktionismus in dramatischen Momenten der Krise um sich greift, wenn er von Politikern von denen man kluge Entscheidungen erwartet praktiziert wird, dann sollten wir über dieses Phänomen nachdenken.

Dies tat diesmal für uns Peter Schiering - hier sein Bericht:

http://www.3sat.de/kulturzeit/themen/85263/index.html
 
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