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die Kugel

antje

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12. Februar 2005
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Schon lange bevor die Oma starb, hatten die Angehörigen ungute Gefühle. Und später, als die Oma im Himmel war, bestätigte sich alles. Wenn man es jemandem erzählt, wird man zu einem Verwandten aus der Münchhausen-Dynastie erklärt.

Die Kugel kam immer mit dem Taxi, weil sie täglich verschlief und weil sie sicher war, die Kosten von der Oma zurück zu bekommen. Dafür aber hielt sie sich viermal länger als üblich bei der Oma auf, kaute genüßlich die Frühstücksbrötchen, die sie mitgebracht hatte und die ebenfalls die Oma bezahlte. Dann pusselte sie noch ein bißchen in der Wohnung herum, ging mehrfach auf die Toilette und vollzog ihre Abschiedszeremonie. Diese bestand darin, noch etwaiges Geld entgegen zu nehmen, die Oma zu knuddeln, zu streicheln und ihr liebevolle Worte ins Ohr zu flüstern -, ja natürlich, die Oma strahlte dann über dieses Maß an Zuneigung.

Derjenige von den Verwandten, der diese Hätschelei miterleben mußte, dachte an schlimme Dinge wie Heuchelei, gar Ausbeuterei, da die Oma ihren Geiz auf anderes konzentrierte als auf die Kugel. Oder wollte da jemand vielleicht sogar erben? Niemand konnte etwas tun, irgendwie vorbeugend -, und da der Oma das Gefühl, noch jemand Wichtiges zu sein, ein verständlicherweise belebender Alltags-Inhalt war, den ihr auch niemand nehmen wollte, wurde das Mißtrauen im Beisein der Oma nicht erörtert.

Wenn sich die Kugel unbeobachtet fühlte oder mit einem Bekannten telefonierte – nachdem sie über denjenigen allerhand böse Bemerkungen von sich gegeben hatte -, war ihr Gesicht verkniffen, und sie erhob einen Mahnfinger, damit alle anderen schwiegen so lange sie ihr Handy benutzte. Sie war von unschöner Figur – daher „Kugel“ -, mehr breit als hoch, mit einem dicken Fettbauch, den sie mit den Imbissen bei der Oma noch weiter wachsen ließ. Ihr T-shirt zeigte sich meistens fleckig und weniger weiß als grau, und niemand wagte es, näher an sie heranzutreten wegen der Ungewißheit, ob sie oder ihre Kleidung eventuell einen unerträglichen Geruch von sich gab. Ein Friseur verpaßte ihr eine Kurzhaar-Frisur, die optisch ihren Kopf punktartig schrumpfen ließ, so daß sich der Eindruck einer rollenden geometrischen Figur noch vertiefte.

Vielleicht hatte sie es nicht gewollt, vielleicht auch vergessen: als die Oma starb, war die Kugel in ihrem Testament nicht erwähnt. Die Verwandten atmeten auf. Nicht, daß die Oma viel zu vererben gehabt hätte. Aber alle dachten, daß die Kugel die Oma zu deren Lebzeiten zur Genüge geschröpft hätte. Jetzt war man sie erfreulicherweise ja bald los. Nachdem man noch einen größeren Betrag, den die Kugel für Auslagen einforderte, gezahlt hatte, und nachdem man ihr die Wohnung der Oma überlassen hatte, damit sie ihren eigenen Krimskrams, den sie im Laufe der Monate dort hinterließ, einpacken konnte, verließen sie die Angehörigen zunächst in der Beruhigung, sie nie wiederzusehen.

Bei letzterem hatten sie tatsächlich recht -, nur daß sie es sich etwas anders vorgestellt hatten. Als sie erneut die Wohnung der Oma aufsuchten, um jetzt den Nachlaß zu regeln, war die Wohnung leer. Leer von den Utensilien der Kugel, aber auch leer von jeglichem Mobiliar und dessen Inhalten. Lediglich die Topfpflanzen auf den Fensterbrettern dämmerten noch dahin, trocken und farblos -, und an den Fenstern hingen noch die Gardinen, wahrscheinlich damit von außen niemand mißtrauisch werde.
Nun wußte keiner der Verwandten, woher die Kugel eigentlich gekommen war. Angeblich hatte ein Pflegedienst sie geschickt als unausgebildete, aber immerhin angebliche Altenpflegerin. Von den Unterlagen der Oma, in denen sie hätten nachlesen können, fanden sich nur noch Asche-Reste in einem Waschbecken. Es begann eine zeitaufwendige Suche in allerhand sozialen Organisationen, den Kirchen und bei der Polizei, an deren Ende sich herausstellte, daß es die Kugel gar nicht gegeben haben konnte. Und den Verwandten blieb lediglich das Bemühen, ihre Erlebnisse nie und nirgends laut werden zu lassen.

Wer hätte das gedacht.
 
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