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Deutschland, eine Republik der Panikmacher?

Hartmut

Well-Known Member
Registriert
15. August 2005
Beiträge
3.007
Hallo,

heute habe ich in der Zeitschrift „Atomwirtschaft“, Heft 10/2005, einen interessanten Artikel von Prof. Dr. Walter Krämer gelesen:

„Hysterie als Standortnachteil, oder: Deutschland, eine Republik der Panikmacher?“

Prof. Krämer ist Wirtschaftsstatistiker an der Universität Dortmund. Zentrale Fragen seines Artikels sind:
Wie bewältigen wir Gefahren? Wie verdauen wir Risiken? Wie gehen wir mit Unsicherheiten und Wahrscheinlichkeiten um?

Seine zentralen Thesen stellt Prof. Krämer gleich zu Beginn vor:

Wir bewältigen Gefahren äusserst ineffizient. Wir verdauen Risiken nur sehr selektiv. Wir stellen uns beim Umgang mit Unsicherheiten und Wahrscheinlichkeiten ziemlich ungeschickt an.

Diese irrationale Einstellung zu Gefahr und Risiko richtet einen enormen betriebs- und volkswirtschaftlichen Schaden an. Erinnert wird an den berühmten Schlecker Babykost-Skandal, an die Birkel Eiernudeln, an Glycol im Wein, von BSE, Acrylamid und Nitrofen gar nicht zu reden. Allein die völlig überzogene SARS-Panik von Anfang 2003 und der dadurch erzeugte Einbruch des Fernost-Fluggeschäftes hat der Deutschen Lufthansa rund 100 Millionen Euro Verluste eingefahren.

An zahlreichen Beispielen zeigt der Autor auf, dass wir uns oft wegen der falschen Dinge die grössten Sorgen machen, dass wir einen Riesenaufwand zur Reduktion von nichts und wieder nichts treiben und dass wir wirkliche Gefahren unberücksichtigt lassen. Zu den Fehleinschätzungen von Gefahren und Risiken tragen insbesondere die Medien bei. Dies verunsichert die Zeitungsleser, wie folgendes Beispiel eines Leserbriefes an die „Rheinische Post“ (Düsseldorf) zeigt:

„Stimmt es, dass ich mich mit BSE anstecken kann, wenn ich lange auf meinem Rindsledersofa sitze?“

Der Autor endet mit bemerkenswerten Sätzen über die Situation in Deutschland:

Ein riesiges freischwebendes Angst-, Protest- und Verweigerungspotenzial steht ... all denen zur Verfügung, die neue Ideen schon bei der Geburt ertränken wollen. Die Beweislast für den Neuerer hat sich umgekehrt: In dynamischen Gesellschaften haben die Gegner des Neuen zu beweisen, dass das Neue schadet. In Deutschland haben Neuerer zu beweisen, dass das Neue nicht schadet ...

Eine Gesellschaft, die ihre Ressourcen auf Scheinprobleme verschwendet, hat ganz offenbar das Schlimmste überstanden.

Gruss
Hartmut
 
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Hartmut schrieb:
In dynamischen Gesellschaften haben die Gegner des Neuen zu beweisen, dass das Neue schadet. In Deutschland haben Neuerer zu beweisen, dass das Neue nicht schadet ...

Aha.
Würde Dir dieses Prinzip z.B. in der Medizin gefallen? Schon mal von Contergan gehört? Es hat einen guten Grund warum alles neue zuerst auf Herz und Nieren getestet wird...
 
Irgendwie stimmt es schon, dass die Deutschen sich gerne "fürchten". Diese Angst wird zusätzlich von den Medien geschürt.
So hat man mir erzählt, dass vor Ausbruch des letzten Golfkriegs die Deutschen Konserven und andere haltbare Nahrungsmittel nahezu panikartig kauften, weil ihnen von "Fachleuten" und den Medien erzählt wurde, dass - würden erstmal die Ölquellen Kuwaits brennen (was dann wohl auch passierte), eine globale Eiszeit bevorstünde.
Genauso wars beim BSE-Skandal.
Die Deutschen, die als Fleischfresser berühmt sind, kauften kein Rindfleisch mehr.
Denkt man logisch, müsste es doch klar sein, dass man evtl. verseuchtes Fleisch schon lange, bevor BSE in aller Munde war, gegessen hat, und dass das Rindfleisch, das währenddessen verkauft wurde, um ein vielfaches besser getestet wurde, als es vorher der Fall war.
Jetzt ist es die Vogelgrippe, die von den Medien breitgreteten wird. Sie berichten zwar ständig, dass das Virus H5N1 in der EG noch nicht identifiziert wurde, aber dennoch boomt der Kauf von Schutzmasken und der Run auf die Apotheken und auf dieses Medikament, das angeblich dieses Virus unschädlich macht, hat längst eingesetzt.
Geflügelfleisch wird kaum noch gekauft, obwohl bekannt ist, dass das Virus durch Kochen und Braten abgetötet wird.

Das Beispiel mit "Contergan" passt nicht so ganz, finde ich.
Dass die Nebenwirkungen einzelner Medikamente oft unterschätzt bzw. unbekannt waren/ und noch sind, das hat sich leider immer wieder mal bestätigt.
Heute ist es doch so, dass gerade in der Pharmaindustrie jedes neue Medikament zuerst an Tieren getestet wird, was auch ok ist. M.M.n. wird aber vielzuviel getestet, weil jedes Pharmaunternehmen neue Tierversuche macht/machen muss, obwohl ein Medikament mit exakt dem gleichen Wirkstoff und fürs gleiche Anwendungsgebiet bereits auf dem Markt ist, aber dort unter einem anderen Namen verkauft wird.
Bayer testet Paracetamol an Tieren, Ratiopharm ebenso und La Roche grundsätzlich.

Niemand sollte Seuchen und evtl. Pandemien unterschätzen, aber diese Panikmache vorher bringt, außer den Medien, niemandem etwas.

Ein Augenmerk auf die globale Erwärmung und deren Auswirkungen zu richten, das ist kaum interessant, weil sies die jetzige Generation und auch die nächste vielleicht noch nicht so trifft. Aber Angst sollten wir um die Generation unserer Enkel und Urenkel haben, denn die haben unsere Fehler in Sachen Umweltschutz auszubaden.

Rhona
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Angeblich gibt es im Ausland den Begriff der "german angst", wie ich in einem längeren Radio-Essay hörte.
Sicher gibt es in Deutschland eine stark von den Nach-68ern beeinflusste Generation, die ihre Identität über Kritikfähigkeit definierte. Ich glaube nicht, dass es um reale Angst geht, sondern um identitässtiftende kritische Haltungen.
Das ärgerliche ist dabei nicht unbedingt die kritische Haltung an sich - sondern dass diese bei wirklich kritikwürdigen Vorgehen plötzlich verstummt. Man erinnert sich an die Friedensmärsche - schön und gut, aber wo sind die Friedensliebaber bei den wirklich aggressiven Staaten? Wo sind kritische Stimmen gegenüber Russland, dem Iran usw.?
Ein großes Bohay wurde um die Volksabstimmung gemacht - jetzt geben die Leute ihre intimen Daten hemmungslos übers Internet preis.
Waldsterben, Brent Spa - die Liste ist lang, aber die eigentlichen Gefahren sitzen woanders.

Die Identitätsstiftung funktiert nur, wenn sie sich gegenüber Vertrautem (USA - die Politker) ausrichten kann, was aber dennoch unerreichbar bleibt - gegen Diffuses, Fremdes, Kompliziertes kann sie sich nicht abbilden. UNd auch nicht gegen zu Konkretes.

Was die Lebensmittelangst betrifft, hat sie auch ein Gutes. Man fühlt sich wirklich relativ sicher - und Deutschland hat hier (wie auch beim Umweltschutz) einen Vorsprung an Know-how.
Auch bei der Pharmazie möchte ich Rhona zustimmen. Ich erinnere daran, dass die deutschen Pharmakonzerne weltweit führend sind - sicher gerade auch weil die Standards so hoch sind.

P.S. Habe vorgestern lecker Huhn gegessen...
 
walter schrieb:
Aha.
Würde Dir dieses Prinzip z.B. in der Medizin gefallen? Schon mal von Contergan gehört? Es hat einen guten Grund warum alles neue zuerst auf Herz und Nieren getestet wird...

Hallo Walter,

ich habe eine Aussage des Autors, Prof. W. Krämer, wiedergegeben. Dieser hat übrigens einleitend gesagt, dass vermutlich nicht alle seine Thesen auf Zustimmung stossen werden. Auch ich teile nicht alles, was er sagt.

Selbstverständlich muss alles Neue getestet werden, in der Technik und insbesondere in der Medizin, wo allfällige Mängel irreparabel sind. Und das Neue muss auch zugelassen werden. Dafür gibt es diverse Überwachungs- und Aufsichtsgremien, wie die TÜV's auf technischem Gebiet. In der Medizin/Pharmazie kenne ich mich mit den diesbezüglichen Gremien weniger gut aus. Den Contergan-Fall kenne ich wohl, bin schliesslich Jahrgang 1944!

Mit welchen Problemen hat aber z.B. die Pharma-Industrie heutzutage zu kämpfen? Da gibt es (sogar militante) Tierschützer, die das Testen neuer Medikamente an Tieren verbieten möchten. Es ist m.E. wie mit dem elektrischen Strom: den hat man, er kommt aus der Steckdose:) . Und die Medikamente kommen aus der Apotheke, wie jeder weiss:) .

Ein anderes Beispiel des Autors, aus dem Bereich der Ernährung, der berühmte Schlecker-Babykost-Skandal:

Spätestens seit Paracelsus wissen wir, dass allein die Dosis das Gift macht! Babykost darf in Deutschland keinerlei Pestizide enthalten. Dann wurden aber trotzdem Pestizide nachgewiesen, die Mütter geraten in Panik, rennen auf den Markt und machen den Babybrei selbst, nicht wissend, dass unser Marktgemüse eine bis zu 200-mal höhere Schadstoffkonzentration aufweist und auch aufweisen darf, als jemals in den beanstandeten Schlecker-Produkten nachgewiesen worden ist.

Diese Nebenwirkung beleuchtet ein weiteres irrationales Element der modernen Risikodebatte, verbreitetes "Tunneldenken": Wir laufen vor einem Risiko davon und dafür einem anderen desto sicherer in die Arme.

Die letztere Einschätzung des Autors teile ich ausdrücklich! Ich halte eine ganzheitliche Betrachtung der Risiken für notwendig.

Gruss
Hartmut
 
Ein link zu einem ausführlichen Artikel von Richard Herzinger zum Thema German Angst:

http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/13.03.2005/1699924.asp

Robin schrieb:
Ich glaube nicht, dass es um reale Angst geht, sondern um identitätsstiftende kritische Haltungen.
Ich glaube eher, daß es um identitätsstiftende ängstliche Haltungen geht - wären sie kritisch, müßten sie rational begründbar sein - und das sind sie häufig nicht, wie Du ja deutlich gemacht hast. Wer bekennt, daß er vor irgendetwas Angst hat, kann sich des Mitgefühls Anderer so gut wie sicher sein, darum ist die beliebte German Angst so ein Selbstgänger.
 
Ich denke nicht, dass Angst ein deutschspezifisches Problem ist, sondern dass jede Nation Angst verspürt.
Das Problem ist, dass "nationale Ängste" meistens nicht von innen heraus wachsen, sondern dass sie von außen geschürt werden.
Überlegt doch mal, welche "Ängste" sich im Lauf der Geschichte als "Volksängste" oder "Volksempfinden" entwickelten!
Neben der, m.M.n. manipulierten oder in Kauf genommenen Angst, die sich jetzt innerhalb der EG breit macht, gab es schon immer nationale Angstattacken.
Die Amis verbarrikadieren sich aus Angst vor Terroranschlägen. Vor 70 Jahren waren die Bolschewiken und Juden die Angstfaktoren Europas. Vor ca. 50 Jahren waren es die Kommunisten für die Amis, für Europa, bis zur Perestoika und dem Mauerfall, ebenfalls. In den 70er waren es die RAF und die Erdöl exportierenden Staaten.
Das ewige "Feindbild" der westlichen Welt, die Sowjetunion, hat sich selbst als Kasperle-Theater entlarvt. Und da niemand ohne Feindbilder leben mag, schafft man sich eben neue.
Die "Achse des Bösen" ist allgegenwärtig, wird aber - da wir in Deutschland, zum Glück, noch nicht unter ihr leiden mussten, vom damaligen, aber sicher immer wiederkehrenden BSE-Skandal, der Schweinepest, den Fischpocken, der Massenarbeitslosigkeit, und jetzt von der Vogelgrippe getoppt.

Bismarck: Ein Appell an die Furcht findet in deutschen Herzen niemals ein Echo:lachen: :spei1:

Mal sehen, vor was ich mich, samt meiner Nation, in den nächsten Jahrenzehnten, noch fürchten muss.

Rhona
 
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Gaius schrieb:
Ich glaube eher, daß es um identitätsstiftende ängstliche Haltungen geht - wären sie kritisch, müßten sie rational begründbar sein - und das sind sie häufig nicht, wie Du ja deutlich gemacht hast.

Richard Herzinger schreibt:

Wo die German Angst ausbricht, herrscht kein erbarmungswürdiges Heulen und Zähneklappern, sondern eine Mischung aus grüblerischer Entrücktheit und aufgebrachter Hektik. Zur German Angst bekennt man sich bereitwillig, oftmals sogar lautstark und mit breiter Brust. Weswegen es bisweilen durchaus angebracht ist, vor der German Angst selbst Angst zu haben.

Es mag für dieses Phänomen nicht so entscheidend sein, aber mich interessiert eben, wo denn die reale Angst (als Gefühl) ist? Ich hatte das Glück, in den 80ern mit zwei politisch hoch aktiven Geschwistern zu leben, die auf Friedensdemos genauso zu finden waren, wie in der Anti-Volkszählungsbewegung. Dass sie Angst hätten, war nicht mein vordringliches Gefühl. Vielmehr ein starker Empörungswille und ein (natürlich intellektuell differenziertes) Wir-Gefühl.
Ich muss sagen, fast beneide ich meine Geschwister um diese Erfahrung. Na ja, Wir-Gefühl, da beneide ich eben alle Welt drum...

Rhona ich gebe dir Recht, das Phänomen ist Nationen übergreifend, die German angst bezeichnet die Ausprägung im links-intellektuellen Milieu und bei Themen wie Umweltschutz und Ernährung.
Man kann auch die McCarthy-Ära in den USA zu diesem Phänomen rechnen, ich habe da im Fernsehen neulich eine interessante Doku gesehen. Aber auch hier ist es schwer uzu entscheiden, ob wirklich entscheidende Teile der Bevölkerung eine konkrete Angst vor Kommunisten entwickelten, oder ob es nur die fatale Tatsache war, dass ein offensichtlich schwer neurotischer Typ wie McCarthy in dieser Frage einen solchen Einfluss bekam...
 
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